Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat: Roman (German Edition)
Im Unterricht kehrte ich zu meinem natürlichen Verhalten zurück. Ich arbeitete hart, ohne mich dessen zu schämen. Ich hob die Hand und beantwortete Fragen. Ich verbrachte viel Zeit mit Recherchen und dem Feilen an meinen Hausaufgaben – mehr Zeit, so könnte ich mir vorstellen, als die meisten anderen Vierzehnjährigen auf diesem Planeten. Ich machte es mir zur Gewohnheit, jeden Abend in der Woche zwei Stunden in der Bücherei von Glastonbury zu verbringen, und noch einige mehr am Wochenende. Nach kurzer Zeit kannte ich die Bibliothekarinnen dort sehr gut. Ich mochte sie, weil sie immer sehr ruhig und gut organisiert waren, still und außerdem sehr hilfreich. Wenn man ein Buch wollte, das sie nicht hatten, bestellten sie es – kostenfrei. Die Gemeinde bezahlte dafür, weil die Gemeinde der Meinung war, Lesen sei gut für die Seele und solle auf jede nur mögliche Art unterstützt werden. Es musste sehr befriedigend sein, für eine Einrichtung mit so hehren Idealen zu arbeiten, und ich beschloss, dass nach Neurologe und Astronom Bibliothekar mein dritter Berufswunsch sein würde.
Während ich mich in meine schweigsamen Studien vergrub, bekam Ellie mindestens drei- bis viermal pro Woche Scherereien. Zum einen war da ihr Plan mit dem Piercing, der von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Wie ich vorausgesehen hatte, konnte keine noch so große Menge Haarspray die Wahrheit verbergen. Ich glaube, es war nur wenige Tage nach unserer ersten Unterhaltung, dass Ellies Stäbchen entdeckt, beschlagnahmt und vernichtet wurde. Ellies Mutter suchte daraufhin alle Schmuckhändler und Tattooshops im Umkreis von fünfzehn Kilometern auf und verteilte DIN -A4-große Fotografien ihrer Tochter. Über dem Foto standen Ellies Geburtsdatum und die Telefonnummer ihrer Eltern, und darunter – für den Fall, dass es irgendjemand nicht kapiert haben sollte – hatte Ellies Mutter geschrieben: Es ist VERBOTEN, dieses Kind zu piercen!! Zusätzlich zu den Großbuchstaben und den doppelten Ausrufezeichen hatte Mrs. Fitzmaurice auch noch rote Tinte benutzt. Mrs. Fitzmaurice traute den Schmuckhändlern und den Tätowierern von Glastonbury kein bisschen.
Dann gab es ein zweites (gleichermaßen demütigendes) Donnerwetter, als Ellies Eltern ein paar Monate später herausfanden, dass ihre Tochter nicht in einer Boutique arbeitete, wie sie behauptet hatte. Ich hatte das Pech, dem darauf folgenden Streit beizuwohnen. Mr. Fitzmaurice kam zu uns nach Hause, um zu verdeutlichen, dass er nichts vom Laden meiner Mutter hielt und nicht erlaubte, dass sich seine Tochter in einer solchen Umgebung herumtrieb. Dies brachte meine Mutter dazu, einen langen, langatmigen Vortrag auf unserer Türschwelle zu halten, in dem es um die Grundsätze der Hexerei ging, um spirituelle Entwicklung, Kommunikation mit der Natur, die Harmonie der inneren und äußeren Elemente, Astralprojektion, die sieben Reiche des Wissens und des Seins … Schwarze Magie, erklärte sie, sei nur ein kleiner Teil des großen Ganzen und von Laien überwiegend missverstanden. Im Grunde genommen sei sie nicht erschreckender als die Wunder, die Jesus gewirkt hatte: übers Wasser gehen, von den Toten wiederauferstehen und so weiter. An diesem Punkt drohte Mr. Fitzmaurice mit seinem Anwalt, und schließlich musste meine Mutter eingestehen, dass sie Ellie angesichts dieses Widerstands nicht länger beschäftigen konnte.
Leider war dieser Rückschlag nur von kurzer Dauer. Ellie trat wieder in den Dienst meiner Mutter, sobald sie sechzehn geworden war, kurz nach ihren Prüfungen (die, wenn man es sich mit Ellie nicht verderben wollte, besser nie erwähnt wurden). Und nicht lange danach entschied sie, dass sie das Leben bei ihren Eltern nicht mehr ertrug, und zog in die Wohnung über dem Laden. Zu der Zeit war Sam längst ausgezogen und Justine nach Indien gegangen, um »sich selbst zu finden«.
Wie ich mir bereits gedacht hatte, war ein Aufenthalt in Ellies Gegenwart in jenen Tagen selten stressfrei. Man musste nicht nur mit der dicken Wolke aus Weltschmerz klarkommen, mit der sie sich typischerweise umgab, jenseits davon gab es auch noch das freundliche – oder nicht so freundliche – Necken, das ständige Augenverdrehen, den überbordenden Sarkasmus und Mascara. Und dann, hin und wieder und völlig unerwartet, benahm sie sich ganz lieb und schwesterlich, mit weichem Lächeln und spielerischem Schubsen und Zwicken. Das war das Schlimmste. Bei einer sarkastischen, stirnrunzelnden Ellie
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