Das Ungeheuer von Florenz
Straße.
»Kommen Sie weg da. Das ist nichts für Sie.«
Er hatte wohl laut gesprochen. Er öffnete die Augen und spürte den Klang seiner eigenen Stimme noch im Raum, als seine Augen allmählich die weiße Wand, die Nesselgardine, seinen Morgenmantel über dem Stuhl wahrnahmen. Er schwitzte, und sein Atem war flach. Ihm war, als habe er ein schweres Gewicht hinter sich hergeschleppt. Noch immer spürte er einen Rest der Furcht, die nach Alpträumen zurückbleibt, und er war froh darüber, daß er beim Einschlafen das Licht nicht ausgeschaltet hatte. Schade nur, daß Teresa nicht neben ihm lag. Sie wäre aufgestanden und hätte wie immer in strengem Ton gesagt: »Wenn du schon nicht zu einer anständigen Zeit essen kannst, iß abends wenigstens etwas Leichtes. Du weißt doch, daß du sonst Alpträume hast…«
Und dann hätte sie ihm einen Kamillentee gekocht. Er konnte sich selber einen kochen, der Tee würde ihm das Gefühl geben, Teresa sei bei ihm. Mühsam setzte er sich auf, versuchte, normal zu atmen und die Nachwirkungen des Alptraums abzuschütteln. Die einzelnen Szenen hatten beim Anschauen so natürlich gewirkt, doch jetzt, wo er die Augen geöffnet hatte, verflüchtigten sie sich. Das Bild des Mörders aber stand ihm noch klar und deutlich vor Augen. Es löste sich unter dem Ansturm der wirklichen Welt keineswegs auf. Der Mörder war dünn, hatte ein schmales, markantes Gesicht und sehr kurz geschnittenes Haar.
»Kamillentee…«
Der Maresciallo stand auf, um sich welchen zu machen. Eine Magenverstimmung hatte er bestimmt nicht, viel eher war er einfach nur übermüdet. Der Tee würde ihn trotzdem beruhigen.
Wenn man von jemandem träumte, den man kannte, erschien derjenige einem im Traum manchmal in der Gestalt einer anderen Person. Konnte es eben so gewesen sein?
›Besser, wenn ich das mal überschlafe.‹ In Wahrheit jedoch behagte ihm der Gedanke, gleich wieder einzuschlafen, nicht besonders. Außerdem war er nun wirklich hellwach. Er ging mit dem Tee ins Schlafzimmer zurück und stellte ihn auf den Nachttisch. Hier war die Antwort womöglich zu finden. Er hatte vor dem Einschlafen gerade Romolas Bericht zu Ende gelesen, und davor hatte er in das Buch neben der Nachttischlampe hineingeschaut. Es war eines der von Bacci angeschleppten Bücher mit Fallgeschichten. An verschiedenen Stellen waren maschinengeschriebene Blätter eingelegt. Bei Fällen, die er für aufschlußreich hielt, hatte Bacci ihnen eine Übersetzung dazugelegt. Zum Teil hatte er sie selbst gemacht, jedoch alles, was er für unwichtig hielt, ausgelassen, und eine Zusammenfassung angefertigt, die sich las wie ein offizieller Ermittlungsbericht. Die anderen Übersetzungen stammten von Baccis Freundin, die ihm aus Zeitgründen zur Hand gegangen war, und waren vollständig, da sie ja nicht wissen konnte, was unwichtig war und was nicht. In einer ihrer Übersetzungen hatte der Maresciallo von dem Glasauge gelesen. Er fand die Stelle schnell wieder.
»Ich bin zur Schule gegangen, aber was wir da gelernt haben, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, daß meine Mama mich in ein Kleid gesteckt hat. Ich mußte in dem Kleid zur Schule gehen, und sie hat gesagt, das war, damit ich lerne, mich zu benehmen wie ein Junge und nicht immer zu schreien und zu brüllen, wenn man mich haut. Sie hat mich manchmal schrecklich verhauen. Wir hatten einen Lehrer in der Schule, der hat mir einmal ein Paar Schuhe geschenkt, denn Schuhe hatte ich keine, und da hat sie mich auch verprügelt, weil ich die angenommen hab. Und dann hat sie mich verprügelt, wenn ich ihr und den Männern nicht zugucken wollte. Sie hat's gern gehabt, wenn ich sie mit ihren Freiern gesehen hab. Ich mußte ihr mit den Freiern zusehen, bis ich vierzehn war, dann bin ich von zu Hause fort.
Mein ganzes Leben hab ich immer nur gehaßt. Jeden. Sie haben mich gefragt, ob ich mal wen gern gehabt hätte, ich glaube nicht. Wir hatten ein Maultier, und das hab ich gern gehabt, glaub ich. Wir waren wie Freunde, und ich hab mit ihm geredet. Im Sommer hatte es Wunden an den Beinen, und ich hab zu ihm gesagt, ich weiß, die tun dir weh, Junge, ich weiß. Ich wußte das, weil ich auch die Wunden hatte wie das Maultier. Wir hatten beide immer Hunger, und ich hab uns was zu essen besorgt, was für mich und was für es. Das Maultier hat meistens alles gefressen, und danach hat es mir lange die Hand abgeleckt, das hat mir gefallen. Manchmal hab ich neben ihm geschlafen, vor allem, wenn man mich
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