Das Ungeheuer von Florenz
seine ungewöhnlichen sexuellen Beziehungen zu Männern und Frauen, Paaren und Gruppen, seine manisch-depressive Erkrankung, die im Jahre 1981 stationär behandelt wurde, seine wahrscheinliche Tatbeteiligung an dem Mord im Jahre 1968 und seine zwiespältige Beziehung zu seinem Bruder Flavio, dies alles ergibt das Bild einer auffallenden Persönlichkeit.
Keiner der obengenannten Verdachtsmomente läßt sich jedoch zu einem Beweis erhärten, der vor Gericht Bestand hätte. Das belastende Material selbst reichte indes dafür aus, Silvano Vargius zu den Carabinieri vorzuladen. Dort sollte er zu zwei Punkten vernommen werden: erstens zu der von Sergio Muscas gegen ihn erhobenen Anschuldigung, für den Mord im Jahre 1968 verantwortlich zu sein; zweitens zu der Aussage seiner ehemaligen Lebensgefährtin, er habe, als sie zusammenlebten, stets eine Pistole im Schlafzimmer aufbewahrt.
Silvano Vargius jedoch leistete dieser Vorladung der Ermittlungsbehörde in Florenz keine Folge. Nachdem er für den Mord an seiner ersten Frau freigesprochen und aus der Haft entlassen worden war, hatte er das Land verlassen.
Auf Verlangen der Staatsanwaltschaft wird daher hiermit erklärt, daß keine weiteren Ermittlungen vorgenommen werden gegen
1) VARGIUS, FLAVIO
2) VARGIUS, SILVANO
3) MUSCAS, SERGIO.
Florenz, 13. Dez. 1989 Der Untersuchungsrichter Michele Romola
»Na, ich hätte ihn verhaftet«, murmelte der Maresciallo, ließ das letzte Blatt des Berichts neben dem Bett zu Boden fallen und rieb sich die müden Augen. »Das Ganze ist doch eine einzige Schande. Wenn wir gegen unseren Verdächtigen nur halb so viel belastendes Material in der Hand hätten…«
Er spürte, wie er schon abdriftete, als er eben noch die Lampe ausschalten wollte, um nun zu schlafen. Es war zwar sowieso schon dunkel. Der Maresciallo hatte keinen sehnlicheren Wunsch als den, daß der Mann neben ihm still sein möge. Er wollte nicht abgelenkt werden. Ihm war nicht ganz klar, warum die gerade vor seinen Augen abgelaufene Szene just in dem Moment, in dem er das Licht ausschaltete, von einem glühenden Rot überzogen wurde. Vielleicht lag es ja daran, daß man sonst in der undurchdringlichen warmen Dunkelheit überhaupt nichts gesehen hätte.
Sein Herz hämmerte laut, und er wußte, daß Furcht der Grund dafür war, obwohl er die Furcht selbst gar nicht klar empfand. Auf alle Fälle mußte er wachsam sein. Er war nie ein Voyeur gewesen, und er hatte sich nie vorstellen können, wie das wohl sein mochte. Aber er war ja auch dienstlich hier, und das war etwas anderes.
Der Mann neben ihm stieß ein leises, von panischer Angst erfülltes Wimmern aus.
»Leise…«
Konzentrieren. Er mußte sich konzentrieren. Er konnte alles sehen, und er mußte jede Einzelheit aufnehmen. Die dünne, schwarz gekleidete Gestalt zog den Körper der jungen Frau nun hinter sich her den Abhang hinab. Die Frau war nackt, und ihre Haut schimmerte rosa in dem roten Licht – einem Infrarotlicht.
Der Mann legte den Frauenkörper auf der Erde ab und breitete Arme und Beine auseinander. Seine Bewegungen waren schnell und ruckhaft wie in einem Stummfilm. Bevor er sich ernsthaft an die Arbeit machte, schien er sich aufzurichten und den Maresciallo aus rotgesprenkelten, funkelnden Augen anzuschauen. Doch dem unverwandten Blick des Maresciallo begegnete nur ein Auge, dessen Pupille vom Drogenkonsum geweitet war. Das andere Auge war starr und blicklos.
Dann beugte sich die Gestalt ächzend wieder nach unten.
»Nein!«
Doch der Film spulte sich unaufhaltsam immer weiter ab, und neben dem Maresciallo rief nun auch der Verdächtige laut. »Nicht! Sei still!«
Zu seiner Erleichterung wurde dem Maresciallo die Vorführung der Verstümmelung erspart. Der Mann schien sich in einer leidenschaftlichen Umarmung auf dem reglosen Körper zu bewegen, und es blieb dem Maresciallo überlassen, allein darauf zu kommen, daß jeder flüchtige Kuß und Biß in den Hals in Wirklichkeit ein kleiner Messerstich war und daß der Mann, als er die linke Brust der Frau umfaßte und, auf die andere Hand gestützt, scheinbar in sie eindrang, in Wirklichkeit mit dem Messer noch tiefer schnitt.
Das Geheul neben ihm wurde lauter. Wie konnte er sich beiden Problemen gleichzeitig widmen? Das war zuviel.
Zum Glück war der Verdächtige so klein, daß es am einfachsten war, ihn hochzuheben und fortzutragen.
Er klemmte sich den in Tränen aufgelösten Winzling unter den linken Arm und wandte sich nach links zu der dunklen
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