Das Ungeheuer von Florenz
Klapsdoktor aus ganz Europa käme angereist, um sich Ihre Geschichte anzuhören. Und wenn sich die Aufregung gelegt hat, schickt man Sie aus Altersgründen oder wegen Ihrer Herzkrankheit ganz ruhig nach Hause. Sie sollten sich das gründlich durch den Kopf gehen lassen, denn wenn Sie vor Gericht gestellt werden und sich verteidigen, sind Sie weg vom Fenster.«
»Und hat er Ihnen geantwortet?«
»Nicht gleich. Er saß da und sah mich mit seinen Schweinsäuglein von der Seite an, reglos, wie er manchmal dasitzt. Er hat darüber nachgedacht, verstehen Sie. Er hat wirklich überlegt, ob das ein Ausweg sein könnte.«
»Aber Sie können doch nicht wissen, was er gedacht hat. Hat er denn nichts gesagt?«
»Doch, klar. Nachdem er mich eine ganze Weile angestarrt hatte, sagte er aus heiterem Himmel: ›Und was soll ich den Eltern sagen?‹ Welchen Reim Sie sich darauf machen, weiß ich allerdings nicht.«
»Das hat er gesagt? Oder daß er sich die Sache überlegt hat?«
»Das läuft doch auf dasselbe hinaus, oder? Wir haben ihn nie ernsthaft in Betracht gezogen, aber was, wenn er es wirklich war?«
»Aber, mal abgesehen von allem anderen, sein Alter…«
»Sein Alter, sein Alter! Dafür gibt es bestimmt eine Erklärung. Alle diese Theorien in Baccis Büchern… Bücher sind ja ganz schön, aber da geht es überall um Fälle im Ausland. Und am Ende kann man sich doch nur auf die eigene Erfahrung verlassen.«
»Ja…«, stimmte der Maresciallo zögernd zu, »aber wir haben keine.«
»Na hören Sie mal, ein Mörder ist ein Mörder – und dieser Mann ist einer, das wissen wir. Ich behaupte ja nicht, daß ich vollkommen überzeugt wäre, ich sage nur, es könnte immerhin was dran sein. Ich meine, klar, man hat ihm viele Fallen gestellt – wir selber haben das getan –, aber das bedeutet ja nicht, daß er unschuldig ist. Jedenfalls wissen Sie jetzt Bescheid. Die könnten recht haben, Romola könnte recht gehabt haben, Sie könnten recht haben. Aber wir sind einfach nicht dafür verantwortlich, also warum sich aufreiben. Flavio zu finden war unsere einzige Hoffnung, und nun ist er tot. Die Sache ist gelaufen.«
Darauf wußte der Maresciallo nichts mehr zu sagen. Nachdem er aufgelegt hatte, blieb er stehen, wo er war, und fragte sich, was er tun sollte. Dann ging er wieder in die Küche und setzte sich an den Tisch. Eigentlich machte er nur aus Trägheit weiter und vielleicht auch, weil es nichts gab, was ihn anhalten oder ablenken konnte. Wenn Teresa wie vorgesehen nach Hause gekommen wäre, hätte sich alles vielleicht anders ergeben. Wenn die offiziellen Ermittlungen nur überzeugender gewesen wären… Er saß eine Weile am Tisch, ohne die vor ihm liegenden Blätter anzurühren, und dachte über das nach, was Ferrini ihm von seinem Gespräch mit dem Verdächtigen erzählt hatte. Er konnte sich den Blick aus dem Augenwinkel, die wäßrigen Augen gut vorstellen, wie sie Ferrini taxierten, seinen Vorschlag taxierten.
»Und was soll ich den Eltern sagen?«
Der Maresciallo konnte sich gut vorstellen, daß besonders einer der Väter der ermordeten jungen Frauen ein solches Ergebnis nicht akzeptieren konnte und, da er nichts mehr zu verlieren hatte, den Verdächtigen selber mit einem Jagdgewehr bestrafen würde. Doch wenn der Verdächtige sich dieser Gefahr bewußt war, hieß das, er war der Schuldige? Nach den Fallen, die man ihm gestellt hatte, mußte ihm inzwischen klargeworden sein, daß Simonetti vor nichts haltmachen würde, um ihn verurteilen zu lassen, und daß man sich gegen eine falsche Anschuldigung nicht mit der Wahrheit verteidigen konnte. Der Verdächtige war ja nicht dumm, er wußte, womit er es zu tun hatte. Er hatte ein animalisches Gespür für drohende Gefahren und log mit Bauernschläue. Er hätte keine Skrupel gehabt, Ferrinis Rat zu befolgen, weil er von einer Unwahrheit ausging. Sich durch Lügen zu verteidigen, zu leugnen, daß er ein Voyeur war, sogar den Mord zu leugnen, für den er gesessen hatte – der Maresciallo erinnerte sich an das eine Mal, als der Verdächtige das getan hatte –, war für ihn ganz natürlich. Wenn er zu der Überzeugung gelangte, daß er seine Lage mit einem Gewirr von Lügen bessern konnte, würde er nicht zögern, sie aufzutischen, sogar seinem Anwalt – oder vielleicht vor allem seinem Anwalt. Dies waren die Regeln, nach denen er spielte, dies war die Wahrheit, in der er lebte. Lügen und immer wieder lügen, zuerst und vor allem den eigenen Anwalt belügen, damit
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