Das Ungeheuer von Florenz
inzwischen blaurot verfärbt. Und was sollte das Ganze eigentlich? Im Grunde hatte Simonetti den Männern den Verdächtigen ja nur präsentieren wollen. Einen anderen Sinn konnte der Maresciallo in dem Geschehen nicht entdecken, und wenn der Mann wirklich krank war, konnten sie es dann nicht dabei belassen?
Niemand schien während der kurzen Unterbrechung reden zu wollen. Vielleicht waren alle über das groteske Verhalten des Verdächtigen konsterniert, oder das Dia, das immer noch auf der Leinwand zu sehen war, hatte ihnen die Sprache verschlagen – der Maresciallo schaute zu Bacci hinüber und sah, daß dieser sich bemühte, daran vorbeizusehen. Simonetti saß im hinteren Teil des Raums, hatte die Beine übereinandergeschlagen und die Arme verschränkt und trug eine gelassene und zuversichtliche Miene zur Schau, bereit, die zehn Minuten nötigenfalls schweigend verstreichen zu lassen.
Es überraschte den Maresciallo nicht sonderlich, daß gerade Ferrini den Mund aufmachte.
»Ich nehme an, Rauchen ist hier nicht gestattet…« Simonetti zog eine Augenbraue in die Höhe und bedeutete Ferrini dann wortlos, er solle den Gerichtssaal durch die Tür verlassen, die derjenigen gegenüberlag, durch welche man den Verdächtigen hinausgeführt hatte. Er sah auf die Uhr, als die Raucher sich erhoben. »Seien Sie pünktlich.«
Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte sich der Maresciallo, Raucher zu sein. Nicht etwa, weil er meinte, Anregung oder gar Ablenkung zu benötigen, sondern weil er nicht allein mit Simonetti zurückbleiben wollte, und in dem riesigen, zum Großteil unbeleuchteten unterirdischen Gerichtssaal konnte er nicht umhergehen und sich die Beine vertreten, wie er es in dem kleinen Raum tat, in dem die Sonderkommission sonst zusammenkam. Er war zwar nicht ganz allein mit Simonetti, denn Bacci rauchte ebenfalls nicht, aber Bacci war ihm keine große Hilfe. Der Junge sah aus, als sei ihm übel, vielleicht wegen des immer noch auf die Leinwand projizierten Dias. Welchen Sinn hatte es, die Aufnahme die ganze Zeit über stehenzulassen? Wollte Simonetti sie alle so verstören wie Bacci? Alle hatten während der Jahre ihres Dienstes schon Schlimmeres gesehen, und Bacci ebenfalls. Was war denn nur mit ihm los?
Der Maresciallo fand Gelegenheit, Bacci darauf anzusprechen, als Simonetti sie plötzlich verließ, sich durch das Dunkel des Raums entfernte und unmittelbar vor dem Publikumseingang jemanden, vermutlich den dort stehenden Wachtposten, in ein Gespräch verwickelte.
»Ich bin nicht zimperlich«, erwiderte Bacci, »obwohl mich das schon…«
Er schaute noch einmal auf die große Leinwand, fand jedoch nicht die rechten Worte für das, was er sagen wollte.
»Ich muß einfach jedesmal, wenn ich hinsehe, an das Risiko denken, das ich einging… Ganz zu Anfang, wissen Sie, bevor jemandem der Gedanke gekommen war, daß es sich um einen Wahnsinnigen handeln könnte, da traf man keine Vorsichtsmaßnahmen, bis eben…«
»Verstehe.«
Das Monster hatte das Sexualleben der ganzen Generation, der Bacci angehörte, nachhaltig beeinträchtigt. Bei der herrschenden Wohnungsknappheit mußten junge Leute bei ihren Eltern wohnen, bis sie verheiratet waren, und manchmal sogar auch dann noch. Ungestört allein sein, Zärtlichkeiten und Geheimnisse austauschen, Pläne schmieden und sich hänseln konnten sie nur in ihrem Auto. Dort waren sie in friedvollen Mondscheinnächten hinter dichten Weinstöcken geschützt und wurden von großen schwarzen Zypressen bewacht. Bis jene erste Kugel aus dem Nirgendwo kam… »Das könnte sie sein… wir! Deshalb. Sie hat lange dunkle Locken wie die da.«
Deshalb konnte er die Augen nicht von dem Dia abwenden, obwohl er es nicht sehen wollte. Der geschundene Leib war so durchlöchert und zerfetzt, daß man nicht mehr viel davon sah, nur, daß es der Leib eines jungen Menschen gewesen war; der Kopf befand sich nicht auf dem Dia. Ohne Zweifel hatte man die langen dunklen Locken zurückgeschoben, damit sie die Messerschnitte auf dem schlanken Hals nicht verdeckten; eine dunkle Strähne war jedoch zur Seite gefallen und hatte sich über die glatte, unverletzte Schulter geringelt.
»Das Risiko, das ich eingegangen bin…«, sagte Bacci noch einmal. »Ich sehe es regelrecht vor mir, wie das passiert ist, als schaute ich mir einen Film an.«
»Komm, reiß dich zusammen«, sagte der Maresciallo. Dann fiel ihm wieder ein, daß der junge Mann sein vorgesetzter Offizier war, doch es schien wenig Sinn
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