Das Ungeheuer von Florenz
gibt zu, daß es Lügen sind – und leugnet unverdrossen weiter. Vielleicht sollte man ein solches Verhalten nicht Dummheit nennen, denn nach der achten oder neunten Version einer Geschichte weiß man selber nicht mehr, was man glauben soll, wenn man keine Beweise hat… Ohne jeden Kompromiß, hatte Simonetti gesagt, doch wohin würde ihn das bei einem solchen Verdächtigen führen, wenn er keinen Beweis auf den Tisch legen konnte – die Waffe… oder die fehlenden Teile des zerstümmelten Körpers hinter dem weißhaarigen Kopf… Der Anwalt war aufgestanden, bemühte sich, die heftigen Reaktionen des Verdächtigen nach jeder Frage abzuschwächen. Der Maresciallo beneidete ihn nicht um seine Aufgabe, denn er bekam ja den ganzen Wust von Lügen, den jetzt alle hörten, unter vier Augen auch aufgetischt. Dies war ebenfalls eine unumstößliche Regel: dem Anwalt niemals die Wahrheit sagen. Der Verdächtige sah aus wie jemand, den der Maresciallo vor Jahren einmal verhaftet hatte, doch der Name wollte ihm nicht einfallen. Der gleiche Blick. Gewalttätig, er hatte eine alte Frau getötet, aber sein Name… Auch die gleiche Kleidung, das gemusterte Hemd, der Kragen zerknittert und offen, die großen farbigen Rhomben auf dem Pullover, das zu enge Jackett, es war fast wie eine Uniform. Der sich nach vorn wölbende Bauch, den die zu eng gewordene Kleidung kaum bedeckte.
»Verfluchte kleine Hexe!«
Der Schweiß strömte ihm an den Schläfen herab und lief ihm unter den zerknautschten Hemdkragen. Seine Augen waren vom Weinen so geschwollen, daß es fast aussah, als habe er sie geschlossen. »Verfluchte blöde kleine Hexe!«
»Nun aber mal halblang, Sie wollen doch nicht Ihrer Tochter die Schuld dafür in die Schuhe schieben, was Sie ihr angetan haben!«
Je zorniger der Verdächtige wurde, desto mehr genoß Simonetti die eigene unerschütterliche Ruhe.
»Die dreckige kleine Schlampe will mich ruinieren, mich! Dafür wird sie in der Hölle schmoren… Schmoren wird sie… Das ist der Dank dafür, daß ich sie großgezogen hab, daß ich mein Lebtag gerackert und geschwitzt hab, daß ich mich aufgeopfert hab, damit sie ein Dach über dem Kopf hat! Das Haus, das ich ihr gekauft hab, das hat sie nicht abgelehnt, nein, das hat sie nicht abgelehnt, die kleine Hexe. Was hab ich ihr denn getan, daß sie mich jetzt vernichten will? Gottverfluchte Scheiße…«
»Bitte sagen Sie Ihrem Klienten, er möge von Flüchen und Gotteslästerungen Abstand nehmen.«
»Ich fluche, soviel ich will, und wenn es einen Gott im Himmel gibt, werden Sie in der Hölle schmoren für das, was Sie mir antun, wie diese elende Hexe, ich hätte ihr die Kehle durchschneiden sollen, als sie zur Welt kam, dann hätte sie mich nicht in eine solche Lage gebracht.«
Kaum hörte er auf zu schreien, begann er wieder zu weinen. Dann senkte er seine Stimme zu einem um Mitleid flehenden Gejammer: »Ich bin krank. Mir ist übel, Sie ermorden einen Kranken… Oh, Gott, hilf mir, mein Herz… Sie bringen mich um…«
»Mein Klient ist krank. Im Bericht des Gefängnisarztes ist eindeutig vermerkt…«
»Ja, ja, wir kennen den Bericht des Gefängnisarztes. Ihr Klient hat, wenn ich mich nicht irre, irgend etwas an den Herzkranzgefäßen.«
Bei diesen Worten lächelte Simonetti seiner Sonderkommission vielsagend zu und richtete den Blick dann wieder auf den Anwalt. »Ja? Trifft das zu?«
»Er leidet an Angina pectoris. Er ist nicht allzu kräftig, und der Jüngste ist er schließlich auch nicht mehr. Eine Vernehmung steht er nicht…«
»Er wird eine Vernehmung durchstehen müssen und danach sogar einen Prozeß, und daran kann kein Bericht eines Gefängnisarztes etwas ändern. Wenn Sie für« – Simonetti sah auf seine Uhr – »zehn Minuten mit ihm hinausgehen wollen, bitte sehr. Geben Sie ihm ein Glas Wasser und führen Sie ihn dann wieder herein.«
»Er braucht mehr als nur ein Glas Wasser. Seine Medikamente…«
»Geben Sie ihm, was er benötigt, und kommen Sie in genau zehn Minuten wieder zurück, wenn Ihr Klient sich in einer ruhigeren Verfassung befindet. Ihnen zumindest dürfte doch klar sein, daß er sich mit seinem Verhalten ebenso schadet, wie er uns Zeit stiehlt.«
Das stimmt, dachte der Maresciallo, als die vier Carabinieri ihren Schutzbefohlenen wegführten, den kleinen Rechtsverdreher in ihrem Schlepptau. Doch es stimmte auch, daß der Mann wirklich krank aussah. Er hatte offenbar einen gefährlich hohen Blutdruck, sein Gesicht hatte sich
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