Das Ungeheuer
schon der Versuch, die Fakten in Worte zu fassen, überzeugte Victor, daß kein Mensch ihm glauben würde. Und selbst wenn ihm jemand diese Geschichte glaubte, was würde dann passieren? Es würde absolut keine Möglichkeit geben, irgendeinen Zusammenhang zwischen VJ und den Todesfällen herzustellen. Es gab keine Indizien, nichts Handfestes. Und was die Laborausrüstung anging, die war nicht gestohlen, zumindest nicht von VJ. Und was die Herstellung des Kokains anbelangte, so war das arme Kind von einem ausländischen Drogenbaron dazu gezwungen worden.
Victor biß sich nervös auf die Unterlippe. Murphy kämpfte noch immer mit dem Formular, angesichts der Schwere der Aufgabe andächtig mit der Zunge über seine fleischigen Lippen fahrend. Er schaute nicht auf, also spann Victor seinen Tagtraum weiter. VJ würde alle Verhöre und
Vernehmungen lächelnd über sich ergehen lassen und völlig unbeschadet überstehen. Und er würde sein mit allen Schikanen ausgestattetes neues Labor in Betrieb nehmen; und es gab nichts, was er in diesem Labor nicht herstellen konnte. Und VJ hatte bereits hinlänglich bewiesen, daß er gewillt und bereit war, jeden aus dem Weg zu räumen, der es wagte, ihm in die Quere zu kommen. Victor fragte sich, wie lange er und Marsha unter diesen Umständen noch leben würden.
Mit einem Gefühl von Niedergeschlagenheit, das ihn den Tränen nahebrachte, mußte Victor sich eingestehen, daß sein Experiment zu erfolgreich gewesen war. Wie Marsha gesagt hatte - er hatte die Konsequenzen des Erfolgs nicht bedacht. Er hatte sich viel zu sehr von der Erregung hinreißen lassen, es zu tun, um sich irgendwelche Gedanken über das mögliche Ergebnis zu machen. VJ war weit mehr, als er in seinen kühnsten Träumen erwartet hatte, und das Gesellschaftssystem war ungenügend dafür gerüstet, mit einem Andersartigen wie VJ zurechtzukommen. Es war fast so, als käme er von einem anderen Stern.
»Okay«, sagte Murphy und warf sein Formular in einen Maschendrahtkorb auf dem Rand seines Schreibtischs. »Was können wir für Sie tun, Dr. Frank?« Er zog mit einem knackenden Geräusch seine Finger auseinander; offenbar waren sie von der ungewohnten Schreibtätigkeit steif geworden.
Ohne große Zuversicht stand Victor auf und ging zum Schreibtisch hinüber. Murphy musterte ihn mit seinen blauen Augen. Sein Hemdkragen schien eine Nummer zu eng, und sein massiger Hals quoll in einer Falte darüber.
»Nun, was haben Sie auf dem Herzen, Doc?« fragte Murphy und lehnte sich zurück. Er hatte große, muskulöse Arme, und er sah genauso aus wie der Typ von Mann, dessen Auftauchen man sich gewünscht hätte, wenn einem gerade irgendwelche Kids die Radkappen klauten oder das Autoradio ausbauten.
»Ich habe ein Problem mit meinem Sohn«, begann Victor.
»Wir haben herausgefunden, daß er mehrfach die Schule geschwänzt hat, um - «
»Entschuldigen Sie, Dr. Frank«, unterbrach ihn Murphy. »Aber sollten Sie da nicht besser mit einem Sozialarbeiter reden, mit jemandem in der Art?«
»Ich befürchte, ein Sozialarbeiter ist da nicht der richtige Ansprechpartner«, sagte Victor. »Mein Sohn hat beschlossen, sich mit kriminellen Elementen einzulassen, und -«
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie schon wieder unterbreche, Dr. Frank. Vielleicht hätte ich Psychologe sagen sollen. Wie alt ist Ihr Junge?«
»Er ist zehn«, antwortete Victor. »Aber er ist - «
»Ich muß Ihnen sagen, daß wir noch nie eine Meldung über ihn bekommen haben. Wie heißt er?«
»VJ. Ich weiß, daß - «
»Bevor Sie weiterreden«, fiel ihm Murphy erneut ins Wort, »muß ich Ihnen sagen, daß wir eine Menge Probleme damit haben, mit Jugendlichen zurechtzukommen. Ich versuche nur, Ihnen zu helfen. Wenn Ihr Sohn was wirklich Schlimmes getan hätte wie sich im Park entblößen oder ins Haus von einer der Witwen einbrechen, dann wäre es vielleicht angebracht, uns einzuschalten. Ansonsten meine ich, daß ein Psychologe und vielleicht irgendeine altmodische Bestrafung das beste wären. Sie verstehen, was ich meine?«
»Ja«, sagte Victor. »Ich glaube, Sie haben völlig recht. Vielen Dank auch, daß Sie mir zugehört haben!«
»Keine Ursache, Doc«, erwiderte Murphy. »Ich bin offen zu Ihnen, weil Sie ein Freund von Cerullo sind.«
»Ich weiß das zu schätzen«, sagte Victor und löste sich mit einem Ruck vom Schreibtisch. Er wandte sich um und hastete zurück zu seinem Auto. Als er in seinem Wagen saß, stieg eine heiße Woge von Panik in ihm hoch.
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