Das Ungeheuer
Ihm war mit einem Schlag bewußt geworden, daß er allein mit VJ fertig werden mußte. Niemand konnte ihm dabei helfen. Es lief auf die Auseinandersetzung Vater gegen Sohn, Schöpfer gegen Geschöpf hinaus. Der Gedanke verursachte ein heftiges Würgegefühl in seiner Brust. Er stieß die Wagentür auf und hielt den Kopf nach draußen, aber irgendwie schaffte er es, die Übelkeit zu verscheuchen, ohne sich zu erbrechen. Er schloß die Autotür wieder und preßte die Stirn gegen das Lenkrad. Er war schweißgebadet.
Victor mußte an die Geschichte mit Abraham und Isaak aus dem Alten Testament denken. Aber er wußte, daß es zwei riesige Unterschiede zu seiner Situation gab: Gott würde sich diesmal nicht einschalten, und Victor würde seinen Sohn nicht mit eigenen Händen töten können. Aber eins wurde ihm immer klarer, wurde zur grausamen Gewißheit: Entweder er oder VJ - einen dritten Weg gab es nicht.
Und dann war da natürlich noch das Problem Marsha. Wie sollte er sie aus dem Labor herauskriegen? Eine neue Woge von Panik schwappte über Victor hinweg. Er wußte, daß er rasch handeln mußte, bevor VJs Intelligenz zum entscheidenden Faktor werden konnte. Außerdem wußte er, wenn er jetzt nicht schnell handelte, würde er womöglich die Nerven und den Mut verlieren.
Victor ließ den Wagen an und fuhr wie in Trance nach Hause, verzweifelt nach irgendeinem Ausweg suchend, irgendeinem Plan. Zu Hause angelangt, ging er als erstes in den Keller, um nach Jorge zu sehen. Erleichtert stellte er fest, daß der Südamerikaner, noch immer tief und friedlich wie ein Baby schlief, wohlig zusammengerollt unter seinem Berg aus Decken und Lumpen. Victor füllte eine leere Weinflasche mit Wasser und stellte sie neben den Kopf des Mannes.
Als er ins Haus kam, ließ ihn erneut das Schrillen des Telefons erschreckt zusammenfahren. Victor starrte auf den Apparat und rang mit sich, ob er abheben sollte oder nicht. Was, wenn es Marsha war? Als es zum viertenmal läutete, gab er sich einen Ruck und hob ab. Sein »Hallo!« klang ziemlich ängstlich - und mit gutem Grund. Die Stimme am anderen Ende der Leitung war eine Männerstimme mit einem harten spanischen Akzent - und sie verlangte Jorge.
Victor hatte für einen Sekundenbruchteil einen völligen
Blackout. Er begann am ganzen Leibe zu zittern. Die Stimme fragte erneut nach Jorge, diesmal mit einer Spur von Ungeduld.
»Er ist auf dem Klo«, preßte Victor heiser hervor.
Er brauchte kein Spanisch zu können, um zu begreifen, daß der andere ihn nicht verstanden hatte. »Toilette!« schrie Victor in die Sprechmuschel. »Er ist auf der Toilette!«
»Okay«, sagte der Mann.
Victor legte den Hörer auf. Wieder raste eine Woge von Panik durch seinen Körper wie ein Stromschlag. Ihm lief die Zeit davon. Er fühlte sich wie ein Fahrgast in einem Zug, der auf einen Abgrund zuraste. Ewig konnte er Jorge nicht auf dem Klo sitzen lassen. Spätestens nach dem nächsten erfolglosen Anruf würden sich Martinez' Gorillas in Bewegung setzen. Victor mußte plötzlich an Gephardt denken, und ihm wurde ganz schlecht.
Victor hieb mehrere Male seinen Kopf gegen den Türrahmen, in der verzweifelten Hoffnung, die Idiotie solchen Verhaltens werde ihn soweit zur Besinnung bringen, daß er wieder klar denken konnte. Er mußte sich etwas einfallen lassen. Viel Zeit blieb nicht mehr.
Feuer war Victors erster Gedanke. Schließlich war der Uhrenturm alt, und die Dielen waren trocken wie Zunder. Ihm schwebte irgendein gewaltiger, verheerender Schlag vor, der den ganzen Spuk auf einmal hinwegfegen würde. Aber das Problem bei Feuer war, daß man es löschen konnte. Und eine halbe Sache würde schlimmer als gar keine sein, denn dann würde Victor sich VJs unbändigem, geballtem Zorn gegenübersehen - und Martinez' Horden.
Eine Explosion wäre besser, entschied Victor nach einigem Überlegen. Aber wie sie auslösen? Victor war sicher, daß er es irgendwie hinkriegen würde, eine kleine Bombe zu basteln, aber bestimmt keine, die genug Explosionskraft haben würde, um das ganze Gebäude in die Luft zu jagen.
Ihm würde schon irgendwas einfallen, aber zuerst mußte er Marsha befreien. Er ging in sein Arbeitszimmer und holte
die Fotokopien, die er sich gemacht hatte, als er nach einem Zugang zum Keller des Gebäudes gesucht hatte. Vielleicht konnte er Marsha durch einen Tunnel rausbekommen. Aber schon ein kurzer Blick auf die Pläne brachte die niederschmetternde Erkenntnis, daß keiner der Tunnel in der Nähe
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