Das Ungeheuer
differenzieren und zu vermehren beginnen. Da diese Aplasia im Verhältnis zu höheren Lebewesen weniger kompliziert sind, konnte ich das Protein isolieren, das für diesen Prozeß verantwortlich ist; ich nannte ihn > Nerve Growth Factor< - Nervenwachstumsfaktor - oder kurz NGF. Kannst du mir folgen?« Victor blieb stehen und sah Marsha fragend an.
»Ja.« Marsha beobachtete ihren Mann. Es war, als verändere er sich vor ihren Augen. Er entwickelte ein beunruhigend messianisches Erscheinungsbild. Plötzlich wurden ihr die Knie weich; sie hatte das schreckliche Gefühl zu wissen, worauf dieser scheinbar irrelevante Vortrag hinauslaufen würde.
Victor nahm sein Herumgehen wieder auf und zeigte sich dabei immer erregter. »Mit gentechnischen Methoden habe ich das Protein reproduziert und das verantwortliche Gen isoliert. Und jetzt kommt das Brillante...« Wieder blieb er vor Marsha stehen, und seine Augen funkelten. »Ich nahm ein befruchtetes Aplasia-Ei - eine Zygote -, und nachdem ich in seiner DNS eine Punktmutation verursacht hatte, fügte ich das neue NGF-Gen zusammen mit einem Promotor ein. Und das Ergebnis?«
»Mehr Ganglienneuronen«, vermutete Marsha.
»Genau!« sagte Victor aufgeregt. »Und, was ebenso wichtig ist, die Fähigkeit, diese Eigenschaft an den Nachwuchs weiterzuvererben. Und jetzt komm zurück in den Hauptraum!« Er nahm Marsha bei der Hand und zog sie vom Stuhl hoch.
Wie betäubt folgte sie ihm zu einem Lichttisch, wo er ihr ein paar Großdias mit Mikroskopaufnahmen von Rattenhirnquerschnitten zeigte. Ohne zu zählen, erkannte Marsha gleich, daß auf dem einen Foto sehr viel mehr Nervenzellen zu sehen waren als auf dem anderen. Immer noch sprachlos, ließ sie sich von ihm in die Tierkammer schieben. Gleich hinter der Tür streifte er ein Paar schwere Lederhandschuhe über. Marsha versuchte, nicht zu atmen. Es stank wie in einem schlecht geführten Zoo. Hunderte von Käfigen beherbergten Affen, Hunde, Katzen und Ratten. Bei den Ratten blieben sie stehen.
Marsha schauderte es beim Anblick der unzähligen rosaroten, zuckenden Nasen und der nackten rosigen Schwänze.
Victor ging zu einem speziellen Käfig und hakte die Tür auf. Er langte hinein und zog eine große Ratte hervor, die mehrmals in seine behandschuhten Finger biß.
»Ruhig, Charlie!« sagte Victor. Er trug die Ratte zu einem Tisch mit einem Glasdeckel, hob den Deckel ein Stück und setzte die Ratte vor eine Art Miniaturlabyrinth. Das Tier hockte unmittelbar vor dem Eingang.
»Paß auf!« sagte Victor und hob die Eingangsklappe.
Nach kurzem Verharren drang die Ratte in das Labyrinth ein. Sie bog nur wenige Male falsch ab, und bald hatte sie den Ausgang erreicht und bekam eine Belohnung.
»Flott, was?« meinte Victor mit zufriedenem Lächeln. »Das ist eine von meinen >intelligenten< Ratten. Das sind Ratten, denen ich das NGF-Gen eingepflanzt habe. Jetzt paß auf!« Victor veränderte die Anordnung so, daß die Ratte wieder an die Ausgangsposition kam, aber in einer Sektion, in der es keinen Zugang zum Labyrinth gab. Dann ging Victor zu den Käfigen zurück und holte eine zweite Ratte, die er in den Tisch setzte, so daß die beiden Tiere einander durch ein Drahtgitter sehen konnten.
Einen Augenblick später öffnete er den Eingang zum Labyrinth, und die zweite Ratte huschte hindurch, ohne einen einzigen Fehler zu begehen.
»Weißt du, was du gerade miterlebt hast?« fragte Victor.
Marsha schüttelte den Kopf.
»Rattenkommunikation«, sagte Victor. »Ich habe diesen Ratten beibringen können, einander das Labyrinth zu erklären. Es ist unglaublich.«
»Ganz bestimmt.« Marsha war weniger begeistert als Victor.
»Ich habe diese >Neuronalproliferationsstudie< an Hunderten von Ratten vorgenommen.«
Marsha nickte unsicher.
»Ich habe sie an fünfzig Hunden, sechs Kühen und einem Schaf vorgenommen«, fügte Victor hinzu. »Ich hatte Angst, es bei den Affen zu versuchen; ich fürchtete, ich könnte Erfolg haben. Dauernd ging mir der alte Film Planet der Affen durch den Kopf.« Er lachte, und das Lachen hallte hohl von den Wänden der Tierkammer wider.
Marsha lachte nicht. Es fröstelte sie. »Was willst du mir eigentlich mit all dem erzählen?« fragte sie, obwohl ihre Phantasie bereits angefangen hatte, bestürzende Antworten zu liefern.
Victor konnte ihr nicht in die Augen sehen.
»Bitte!« rief Marsha, den Tränen nahe.
»Ich versuche dir nur einen Hintergrund zu verschaffen, damit du es verstehst«, sagte Victor, und er
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