Das Ungeheuer
wußte, daß sie es nie verstehen würde. »Glaube mir, ich hatte nicht geplant, was als nächstes passierte. Ich hatte die Versuche mit dem Schaf gerade erfolgreich beendet, als du anfingst, von einem zweiten Kind zu sprechen. Erinnerst du dich, wie wir beschlossen, zu Fertility Inc. zu gehen?«
Marsha nickte, und Tränen rollten ihr über die Wangen.
»Nun, du hast ihnen eine sehr erfolgreiche Eizell-Ernte gegeben. Wir bekamen acht.«
Marsha merkte, daß sie wankte. Einen Halt suchend, klammerte sie sich an den Rand des Labyrinthtischs.
»Ich persönlich habe die In-vitro-Fertilisation mit meinem Sperma vorgenommen«, fuhr Victor fort. »Das wußtest du. Was ich dir nicht gesagt habe, ist, daß ich die befruchteten Eier wieder hierher ins Labor gebracht habe.«
Marsha ließ den Labyrinthtisch los und taumelte zu einer der Bänke. Sie wünschte, die Besinnung zu verlieren. Schwer ließ sie sich auf die Bank fallen. Sie glaubte nicht, daß sie den Rest von Victors Geschichte würde ertragen können. Aber ihr war klar, daß er ihr jetzt, da er einmal angefangen hatte, alles erzählen würde, ob es ihr gefiel oder nicht. Anscheinend glaubte er, er könne die Ungeheuerlichkeit seiner Sünde verringern, wenn er sich auf eine rein wissenschaftliche Beschreibung beschränkte. War das wirklich der Mann, den sie geheiratet hatte?
»Als ich die Zygoten wieder hier hatte«, berichtete er, »wählte ich eine Nonsens-Sequenz der DNS an Chromosom sechs und nahm eine Punktmutation vor. Dann pflanzte ich mit Mikroinjektionstechniken und einem Retroviralinjektor das NGF-Gen und mehrere Promotoren ein, darunter einen aus einem bakterialen Plasmid mit der Codierung auf Resistenz gegen das Cephalosporin-Antibiotikum Cephaloclor.«
Victor hielt für einen Moment inne, blickte aber nicht auf. »Darum habe ich darauf bestanden, daß Mary Millman von der zweiten bis zur achten Woche ihrer Schwangerschaft das Cephaloclor nahm. Es war das Cephaloclor, was das Gen eingeschaltet hielt und den Nervenwachstumsfaktor produzierte.«
Jetzt sah er doch auf. »Gott helfe mir - aber als ich es tat, hielt ich es für eine gute Idee. Später wußte ich, daß es falsch war. Ich lebte in Angst und Schrecken, bis VJ geboren wurde.«
Marsha konnte plötzlich ihre Wut nicht mehr zügeln. Sie sprang auf und hämmerte mit den Fäusten auf Victor ein. Er machte keine Anstalten, sich zu schützen, sondern wartete, bis sie die Hände sinken ließ und lautlos weinend vor ihm stand. Dann versuchte er, sie in die Arme zu nehmen, aber sie ließ sich nicht anrühren. Sie ging hinaus ins Hauptlabor und setzte sich. Victor folgte ihr, aber sie sah ihn nicht an.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Glaube mir, ich hätte es nie getan, wenn ich nicht sicher gewesen wäre, daß es klappen würde! Bei keinem der Tiere hat es je ein Problem gegeben. Und die Vorstellung, ein superintelligentes Kind zu haben, war so verführerisch...« Er sprach nicht weiter.
»Ich kann nicht glauben, daß du etwas so Furchtbares getan hast«, sagte sie schluchzend.
»Auch früher haben Forscher an sich selbst experimentiert«, erwiderte er, aber ihm war klar, daß dies keine Entschuldigung war.
»An sich selbst!« rief Marsha. »Aber nicht an unschuldigen Kindern.« Sie weinte hemmungslos. Doch in der Tiefe ihres Herzens regte sich von neuem die Angst. Sie bemühte sich, die Fassung wiederzugewinnen. Victor hatte etwas Schreckliches getan, aber was geschehen war, war geschehen, und sie konnte es nicht rückgängig machen. Das Problem bestand jetzt darin, die Wirklichkeit zu bewältigen, und ihre Gedanken kehrten zu VJ zurück, jemandem, den sie von Herzen liebte. »Also gut«, brachte sie mühsam hervor und kämpfte die neuerlich aufsteigenden Tränen nieder. »Jetzt hast du's mir erzählt. Aber du hast mir noch nicht gesagt, weshalb du VJ schon wieder neuromedizinisch untersuchen lassen willst. Was befürchtest du? Glaubst du, seine Intelligenz hat wieder nachgelassen?«
Und während sie sprach, wanderten ihre Gedanken sechseinhalb Jahre zurück in die Vergangenheit. Sie wohnten noch in dem kleinen Farmhaus, und David und Janice waren gesund und munter. Es war eine glückliche Zeit gewesen, eine Zeit des Staunens über VJs unglaublichen Verstand. Mit drei Jahren konnte er alles lesen und fast alles behalten. Soweit sie es damals hatte feststellen können, hatte sein IQ irgendwo bei zweihundertfünfzig gelegen.
Und dann eines Tages hatte sich alles geändert. Sie war bei Chimera
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