Das Ungeheuer
dieser Periode eine enge Beziehung zu VJ gehabt hatte, war Martha Gillespie in der Vorschule gewesen, mit der VJ vor seinem zweiten Geburtstag angefangen hatte.
Einem Impuls folgend, rief Marsha zu Jean hinaus: »Ich glaube, ich lasse das Mittagessen heute ausfallen; gehen Sie nur, wohin Sie möchten! Aber vergessen Sie nicht, den Auftragsdienst einzuschalten!«
Jean saß geschäftig vor der Schreibmaschine und winkte bloß zum Zeichen, daß sie verstanden hatte.
Fünf Minuten später fuhr Marsha mit fünfundsechzig Meilen pro Stunde über die Interstate. An der nächsten Ausfahrt aber bog sie schon ab und war bald wieder auf schmalen Landstraßen unterwegs.
Die Vorschule war eine bezaubernde Ansammlung gelber Häuser mit weißem Zieranstrich und weißen Fensterläden auf dem Gelände eines sehr viel größeren Landhauses.
Marsha fragte sich, wie die Schule sich über Wasser halten mochte, aber man munkelte, daß sie für Martha Gillespie eher so etwas wie ein Hobby sei. Martha war jung verwitwet und hatte ein Vermögen geerbt.
»Natürlich erinnere ich mich an VJ«, erklärte sie mit gespielter Entrüstung, als Marsha sie im Verwaltungshäuschen gefunden hatte. Sie war an die Sechzig, hatte schneeweißes Haar und muntere rosige Wangen. »Ich kann mich lebhaft an ihn erinnern, vom ersten Tag an. Er war ein höchst außergewöhnlicher Junge.«
Auch Marsha erinnerte sich an diesen ersten Tag. Sie hatte VJ früh hergebracht, besorgt wegen seiner möglichen Reaktion, denn er war noch nie allein von zu Hause fort gewesen, ohne daß Janice oder sie selbst ihn begleitet hatte. Dies würde seine erste Berührung mit derartiger Unabhängigkeit werden. Aber wie sich gezeigt hatte, sollte die Anpassung für Marsha schwieriger werden als für ihren Sohn, der sich ohne einen Blick zurück in eine Gruppe von Kindern gestürzt hatte.
»Ich weiß noch«, sagte Martha, »daß er alle anderen Kinder am Ende des ersten Tages soweit hatte, daß sie genau das taten, was er wollte. Und da war er nicht mal zwei!«
»Dann erinnern Sie sich auch, wie seine Intelligenz plötzlich abstürzte?«
Martha schwieg und sah Marsha forschend an. »Ja«, sagte sie schließlich. »Daran erinnere ich mich auch.«
»Was wissen Sie noch über die Zeit danach?«
»Wie geht es dem Jungen heute?«
»Gut, hoffe ich«, antwortete Marsha.
»Wollen Sie sich der Aufregung aus einem speziellen Grund noch einmal aussetzen?« fragte Martha Gillespie. »Ich kann mich erinnern, daß Sie damals völlig erledigt waren.«
»Um ehrlich zu sein«, sagte Marsha, »ich habe schreckliche Angst, das gleiche könnte noch einmal passieren. Ich dachte mir, wenn ich etwas mehr über die erste Episode in Erfahrung bringe, kann ich eine zweite vielleicht verhindern.«
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen da sehr viel weiterhelfen kann«, meinte Martha. »Es war bestimmt eine gewaltige Veränderung, und sie kam sehr schnell zustande. VJ verwandelte sich aus einem selbstbewußten Kind, dessen geistige Kapazitäten schier grenzenlos zu sein schienen, in einen zurückgezogenen Jungen, der nur wenige Freunde hatte. Nicht, daß er autistisch geworden wäre. Zwar zog er sich zurück, aber was um ihn herum vor sich ging, war ihm stets auf beinahe gespenstische Weise bewußt.«
»Hatte er weiterhin Beziehungen zu anderen Kindern seines Alters?« fragte Marsha.
»Wenig. Wenn wir ihn zwangen, sich irgendwo zu beteiligen, machte er immer bereitwillig mit, aber wenn man ihn sich selbst überließ, sah er nur zu. Wissen Sie, eins war dabei wirklich sonderbar: Immer wenn wir darauf bestanden, daß VJ sich an irgendeinem Spiel beteiligte, dann ließ er die anderen Kinder gewinnen. Das war merkwürdig, weil er bis dahin immer gewonnen hatte, ganz gleich, wie alt die anderen Kinder waren.«
»Das ist wirklich merkwürdig.« Marsha nickte.
Als sie später zurück in die Praxis fuhr, ging ihr der dreieinhalbjährige VJ, der die anderen Kinder gewinnen ließ, nicht aus dem Sinn. Das erinnerte sie an die Swimmingpool-Geschichte vom Sonntag abend. In ihrer ganzen Erfahrung mit kleinen Kindern hatte Marsha einen solchen Zug noch nicht erlebt.
»Erstklassig!« sagte Victor, als er einen der Objektträger hochhielt und die Deckenbeleuchtung hindurchschien. Er sah die papierdünne Scheibe Hirngewebe unter der Klarsichtversiegelung auf dem Glasplättchen.
»Das ist der Golgi-Fleck«, erklärte Robert Grimes. »Sie haben da auch noch einen Cajal und einen Bielschowsky. Wenn Sie andere wollen,
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