Das Ungeheuer
Victor erinnerte sich, daß er es in VJs Alter oft auch so gemacht hatte.
Während er seinen Sohn anschaute, wollten ihm Marshas Befürchtungen nicht aus dem Kopf gehen. Dem Jungen fehlte anscheinend nichts, aber konnte das Implantat seine Entwicklung beeinflußt haben? VJ war ein Einzelgänger. In dieser Hinsicht hatte er jedenfalls nicht die geringste Ähnlichkeit mit irgendeinem in der Familie.
»Wie ist dein Freund Richie eigentlich?« fragte Victor plötzlich.
VJ warf ihm einen Blick zu, in dem sich Verdruß und Unglaube mischten. »Du klingst wie Mutter«, sagte er.
Victor lachte. »Vermutlich. Aber im Ernst - was für ein Junge ist Richie? Wieso haben wir ihn noch nicht kennengelernt?«
»Er ist ganz okay«, erwiderte VJ. »Ich sehe ihn jeden Tag in der Schule. Ich weiß nicht - zu Hause haben wir unterschiedliche Interessen. Er sitzt viel vor dem Fernseher.«
»Wenn ihr zwei diese Woche nach Boston möchtet, kann jemand aus der Firma euch hinfahren.«
»Danke, Dad! Mal sehen, was Richie meint.«
Victor lehnte sich zurück. Offenbar hatte der Junge Freunde. Er nahm sich vor, Marsha heute abend an Richie zu erinnern.
Als Victor in seinen Parkplatz einbog, erschien Philips wuchtige Gestalt wie durch Zauberei vor der Frontscheibe. Als er VJ erblickte, erstrahlte ein Lächeln auf seinem breiten Gesicht. Er packte die Stoßstange und schüttelte den ganzen Wagen.
»Du meine Güte!« sagte Victor.
VJ sprang aus dem Auto und versetzte dem Mann einen Boxhieb auf den Oberarm. Philip tat, als verliere er das Gleichgewicht, taumelte ein paar Schritte zurück und hielt sich den Arm. VJ lachte, und die beiden wandten sich ab.
»Moment mal!« rief Victor. »Wo wollt ihr hin?«
VJ drehte sich um und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. In die Cafeteria oder in die Bibliothek. Wieso? Soll ich noch was machen?«
»Nein«, antwortete Victor. »Ich will nur, daß du dich vom Fluß fernhältst. Bei dem warmen Wetter wird er noch weiter steigen.« Im Hintergrund hörte man das Rauschen des Wassers, das über das Wehr strömte.
»Keine Sorge!« sagte VJ. »Bis später!«
Victor sah ihnen nach, als sie um die Ecke gingen und in Richtung Cafeteria verschwanden. Sie bildeten ein wunderliches Paar, die beiden.
In seinem Büro machte Victor sich gleich an die Arbeit. Colleen teilte ihm das Neueste zu allen Angelegenheiten mit, die heute zu erledigen waren. Victor delegierte, was er konnte, und legte alles, was er selbst übernehmen mußte, in einem säuberlichen Stapel auf seinen Schreibtisch. Dann holte er den Zettel hervor, der an den Ziegelstein gebunden gewesen war.
»>Denke an die Abmachung<«, las er laut. »Was, zum Teufel, soll das heißen?« In plötzlicher Wut griff er zum Telefonhörer und rief Gephardts Anwalt, William Hurst und Sharon Carver an. Keinem gab er Gelegenheit, etwas zu sagen; kaum hatten sie sich gemeldet, brüllte er, es gebe keine Abmachung, und er werde jedem, der seine Familie belästige, die Polizei auf den Hals hetzen.
Danach kam er sich ein bißchen albern vor, aber er hoffte, daß der Schuldige es sich jetzt zweimal überlegen würde, ehe er es noch einmal versuchte. Ronald rief er nicht an; er konnte sich nicht vorstellen, daß sein alter Freund sich zu solchen Gewalttätigkeiten hinreißen ließ.
Als das erledigt war, nahm er die erste von Colleens Notizen zur Hand und begann mit den Geschäften des Tages.
Marshas Tag verging in einem scheinbar endlosen Strom von schwierigen Patienten, bis eine Absage kurz vor der Mittagspause ihr Gelegenheit gab, sich eine Stunde lang mit VJs Testergebnissen zu befassen. Als sie sie hervorholte, dachte sie an seine intensive Wut über den Ziegelsteinwerfer. Sie betrachtete die klinische Skala vier, die solche unterdrückte Feindseligkeit widerspiegeln sollte. VJs Resultat lag deutlich unterhalb dessen, was sie bei seinem Verhalten erwartet hätte.
Marsha stand auf, streckte sich und schaute zum Fenster hinaus. Leider ging der Blick hier auf einen Parkplatz, aber dahinter lagen Felder und welliges Hügelland. Die Bäume hatten alle noch ihr winterlich totes Aussehen; ihre Äste standen wie Skelette vor dem blaßblauen Himmel.
Soviel zu psychologischen Tests, dachte sie, und sie wünschte, sie hätte mit Janice Fay reden können. Die Frau hatte bis zu ihrem Tod 1985 bei ihnen gelebt. Wenn irgend jemand einen Einblick in die Veränderung von VJs Intelligenz hätte haben können, wäre sie es gewesen. Die einzige andere Erwachsene, die in
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