Das Ungeheuer
glaube, er wird eines Tages ein teuflisch guter Forscher sein. Er liebt das Labor.«
»Vorausgesetzt, seine Intelligenz stürzt nicht noch einmal ab«, sagte Marsha spitz. »Aber seine Arbeitsfähigkeit macht mir keine Sorgen. Ich befürchte, daß dein unsagbares Experiment sich auf seine menschlichen Qualitäten ausgewirkt haben könnte.« Sie wandte sich ab, um die Tränen zu verbergen. Sie wußte nicht, wie sie mit Victor verheiratet bleiben sollte, wenn all dies vorüber wäre. Aber ob VJ je bereit sein würde, sein geliebtes Labor aufzugeben und bei ihr zu leben?
»Ihr Psychiater...!« knurrte Victor, während er den Korkenzieher hervorkramte.
Marsha rührte durch den Reis und sah nach den Artischocken. Nur mühsam bewahrte sie ihre Fassung. Sie wollte nicht mehr weinen. Eine Zeitlang schwieg sie. »Ich wünschte«, sagte sie dann, »ich hätte über VJs Entwicklung Tagebuch geführt. Das wäre äußerst hilfreich.«
»Ich habe eins«, erklärte Victor und zog mit lautem Plopp den Korken aus der Flasche.
»Wirklich? Warum hast du mir nie davon erzählt?«
»Weil es zum NGF-Projekt gehörte.«
»Kann ich es sehen?« Wieder mußte Marsha ihren Zorn über die Arroganz hinunterschlucken, mit der ihr Mann VJ als Versuchskaninchen benutzt hatte.
Victor kostete den Wein. »Es liegt in meinem Arbeitszimmer. Ich zeige es dir später, wenn VJ im Bett ist.«
Marsha saß in Victors Arbeitszimmer. Sie hatte darauf bestanden, das Tagebuch allein zu lesen, denn sie wußte, daß Victors Anwesenheit sie noch weiter aufgebracht hätte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie VJs Geburt noch einmal durchlebte. Obwohl ein großer Teil der Aufzeichnungen lediglich aus standardmäßigen Laborberichten bestand, war sie von der Lektüre schmerzlich bewegt. Sie hatte vergessen, wie VJs Augen ihr von der Geburt an gefolgt waren, lange bevor ein durchschnittliches Baby in der Lage war, zielgerichtet zu schauen.
All die üblichen Meilensteine waren zu unglaublich frühen Zeiten erreicht worden, vor allem das Sprachvermögen. Mit sieben Monaten, als VJ nicht mehr als »Mama« und »Dada« hätte sagen können dürfen, sprach er bereits vollständige Sätze. Mit achtzehn Monaten, als andere Kinder halbwegs ordentlich gehen konnten, fuhr er mit einem kleinen Fahrrad herum, das Victor eigens hatte anfertigen lassen.
Als sie die Geschichte noch einmal las, erinnerte Marsha sich daran, wie aufregend das alles gewesen war. Jeden Tag war eine neue, schwierige Aufgabe gemeistert, eine neue und unerwartete Fähigkeit offenbart worden. Sie sah ein, daß auch sie sich heute vorwerfen mußte, allzu genüßlich in VJs einzigartigen Leistungen geschwelgt zu haben. Damals hatte sie kaum einen Gedanken auf die Folgen seiner Frühreife für seine Persönlichkeitsentwicklung verschwendet. Aber als Psychologin hätte sie es besser wissen müssen.
Victor kam mit irgendeiner durchsichtigen Ausrede über ein angeblich benötigtes Buch herein, als sie gerade einen Abschnitt mit der Überschrift »Mathematik« las. Voller Unbehagen über ihre eigenen Unzulänglichkeiten als sorgende Mutter ließ sie ihn bleiben und las weiter. Die Mathematik war immer ihre Schwäche gewesen. Auf dem College hatte sie Nachhilfeunterricht gebraucht, um die nötigen Kurse im Differentialrechnen erfolgreich zu absolvieren. Als VJ angefangen hatte, ein außergewöhnliches Talent im Umgang mit Zahlen an den Tag zu legen, war sie verblüfft gewesen. Mit drei Jahren hatte VJ ihr tatsächlich die Grundlagen der Differentialrechnung so erklärt, daß sie sie zum erstenmal im Leben begriffen hatte.
»Was mich verblüfft hat«, sagte Victor jetzt, »war seine Fähigkeit, mathematische Gleichungen in Musik zu übersetzen.«
Marsha erinnerte sich; sie hatten damals gedacht, sie hätten es mit einem neuen Beethoven zu tun. Und mir ist nie eingefallen, mich zu fragen, ob die Bürde des Genies für ein Kleinkind nicht zu schwer sein könnte, dachte sie voller Reue. Traurig blätterte sie die nächsten paar Seiten um und stellte fest, daß das Tagebuch damit zu Ende war.
»Das ist hoffentlich nicht alles«, sagte sie.
»Leider doch.«
Marsha las die letzten Seiten. Der letzte Eintrag war vom 6. März 1982; er beschrieb das Ereignis in der Kindertagesstätte von Chimera Inc., an das Marsha sich so lebhaft erinnerte. Sodann faßte er die plötzliche Intelligenzverminderung des Kindes leidenschaftslos zusammen. Der Schlußsatz lautete: »VJ hat anscheinend eine akute
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