Das Ungeheuer
gern hier«, antwortete VJ. »Mach dir keine Sorgen um mich, okay?«
Marsha sah VJ nach, wie dieser davonmarschierte; Philip beeilte sich, ihn einzuholen. Welch ein Paar! dachte sie und bemühte sich, im Gedanken an die Erkenntnisse des vergangenen Abends nicht wieder in Panik zu verfallen.
Sie parkte und ging dann zu Fuß zum Kinderhort. Als sie das Gebäude betrat, hörte sie das Klatschen eines Racketballs. Die Courts waren ein Stockwerk höher im Fitneßcenter.
Pauline Spaulding kniete auf dem Boden, als Marsha sie fand; sie beaufsichtigte eine Gruppe von Kindern, die mit Fingerfarben malten. Als sie Marsha sah, sprang sie auf. Ihrer Figur war anzusehen, daß sie all die Jahre als Aerobic-Lehrerin gearbeitet hatte.
Als Marsha sie bat, ihr ein paar Minuten ihrer Zeit zu schenken, ließ Pauline die Kinder allein und machte sich auf die Suche nach einer anderen Kindergärtnerin. Schließlich kam sie mit einer jungen Frau im Schlepptau zurück, und dann führte sie Marsha in einen Raum voller Kinderbetten und Pritschen.
»Hier sind wir einigermaßen ungestört«, sagte sie. Mit großen ovalen Augen sah sie Marsha nervös an; sie vermutete, daß sie im Auftrag ihres Mannes in dienstlichen Angelegenheiten gekommen war.
»Ich bin nicht als Frau des Chefs hier«, erklärte Marsha, um sie zu beruhigen.
»Ach so!« Pauline seufzte erleichtert und lächelte. »Ich dachte, Sie hätten eine größere Beschwerde vorzubringen.«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Marsha. »Ich möchte mit Ihnen über meinen Sohn sprechen.«
»Ein wunderbarer Junge«, schwärmte Pauline. »Vermutlich wissen Sie, daß er von Zeit zu Zeit herkommt und uns hilft. Erst letztes Wochenende war er hier.«
»Ich wußte nicht, daß die Tagesstätte auch an Wochenenden geöffnet ist.«
»Sieben Tage in der Woche«, antwortete Pauline nicht ohne Stolz. »Viele Leute hier bei Chimera arbeiten ja täglich. Vermutlich nennt man so was Engagement.«
Marsha war nicht sicher, ob sie es so nennen würde, und sie fragte sich, was für eine Belastung diese Art des Einsatzes wohl für ein ohnehin strapaziertes Familienleben sein würde. Aber sie sprach es nicht aus. Statt dessen fragte sie Pauline, ob sie sich an den Tag erinnerte, an dem VJs IQ abgestürzt war.
»Natürlich erinnere ich mich daran. Die Tatsache, daß es hier passiert ist, hat in mir das Gefühl hinterlassen, ich sei irgendwie verantwortlich dafür.«
»Das ist völlig absurd«, sagte Marsha mit warmherzigem Lächeln. »Ich wollte Sie nur fragen, wie VJ sich danach verhalten hat.«
Pauline schaute auf ihre Füße und dachte nach. Dann hob sie den Kopf. »Ich glaube, was mir am meisten auffiel, war, daß er sich von einem Anführer bei allen Aktivitäten in einen Beobachter verwandelte. Vorher war er immer erpicht darauf gewesen, alles mögliche auszuprobieren. Danach benahm er sich gelangweilt und mußte jedesmal gezwungen werden, teilzunehmen. Und er ging jedem Wettbewerb aus dem Weg. Es war, als sei er ein ganz anderer Mensch geworden. Wir bedrängten ihn nicht; das wagten wir nicht. Aber nach diesem Ereignis bekamen wir ihn sehr viel seltener zu Gesicht.«
»Was heißt das?« fragte Marsha. »Er ist doch noch, als er zur Vorschule ging, jeden Nachmittag hergekommen.«
»Nein«, sagte Pauline. »Er fing an, die meiste Zeit im Labor bei seinem Vater zu verbringen.«
»Tatsächlich? Ich dachte, das hätte erst mit der Schule angefangen. Aber was weiß ich schon? Ich bin ja bloß die Mutter.«
Pauline lächelte.
»Wie ist es mit Freunden?« fragte Marsha.
»Freundschaften gehörten nie zu seinen starken Seiten«, sagte Pauline diplomatisch. »Mit den Mitarbeitern hat er sich immer besser verstanden als mit den anderen Kindern. Und nach seinem Problem neigte er dazu, für sich zu bleiben. Nein, das stimmt nicht. Er war offenbar gern mit dem behinderten Mitarbeiter zusammen.«
»Sie meinen Philip?«
»Richtig!«
Marsha stand auf, bedankte sich bei Pauline, und zusammen gingen sie zum Ausgang.
»VJ ist vielleicht nicht mehr so intelligent, wie er mal war«, sagte Pauline in der Tür, »aber er ist ein feiner Junge. Wir haben ihn gern hier im Hort.«
Marsha kehrte eilig zurück zum Auto. Viel hatte sie nicht erfahren, aber VJ war anscheinend schon immer ein größerer Einzelgänger gewesen, als sie vermutet hatte.
Victor wußte, daß er sofort in sein Büro gehen sollte, als er bei Chimera angekommen war. Colleen ertrank zweifellos in lauter Notfällen. Aber statt dessen trug er
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