Das Unsterblichkeitsprogramm
letzte Mal hatte ich Betathanatin bei den Straßenkämpfen auf Sharya benutzt. Eine volle Dosis, die das Blut auf Zimmertemperatur abkühlte und den Herzschlag auf extreme Zeitlupe verlangsamte. Ein guter Trick, um die Personendetektoren an den sharyanischen Spinnenpanzern in die Irre zu führen. Wenn man im Infrarotbereich unsichtbar war, konnte man sich ganz nahe heranschleichen, an einem Bein hinaufklettern und die Luken mit Termitgranaten aufsprengen. Wenn die Besatzung von der Schockwelle gelähmt war, ließ sie sich in den meisten Fällen so mühelos wie ein Wurf neugeborener Kätzchen abknallen.
»Hab Stiff, Mann«, sagte eine raue Stimme überflüssigerweise. Ich blinzelte die Sendung weg und sah dann ein blasses Gesicht unter einer grauen Kapuze vor mir. Der Sender befand sich auf seiner Schulter und zwinkerte mir mit roten Lämpchen zu, die wie Fledermausaugen aussahen. Auf Harlans Welt gab es sehr strenge Gesetze, die solche Direktübertragungen regelten, und selbst eine unbeabsichtigte Sendung konnte die gleiche heftige Reaktion hervorrufen wie das Verschütten eines Drinks in einer Hafenbar. Ich stieß mit einem Arm zu und versetzte dem Dealer einen kräftigen Schlag gegen die Brust. Er taumelte rückwärts gegen eine Ladenfront.
»He…!«
»Wichs nicht in meinem Kopf herum, Freundchen. Das mag ich nicht.«
Ich sah, wie sich seine Hand einem Gerät an seiner Hüfte näherte, und ahnte, was kommen würde. Ich suchte mir ein neues Ziel und legte meine starren Finger an seine Augäpfel.
Und stand plötzlich einem zischenden Berg aus feuchtem Fleisch gegenüber, der fast zwei Meter hoch war. Tentakeln griffen schlängelnd nach mir, und meine Hand steckte in einer schleimigen Höhlung, die von dicken schwarzen Flimmerhärchen eingerahmt wurde. Mir drehte sich der Magen um, und meine Kehle war wie zugeschnürt. Ein Schauder des Ekels durchfuhr mich, dann stieß ich tiefer in die wimmelnden Härchen und spürte, wie die Schleimhaut nachgab.
»Wenn du dein Augenlicht behalten möchtest, solltest du das Ding abstellen«, sagte ich gepresst.
Der Fleischberg verschwand, und ich stand wieder dem Dealer gegenüber. Meine Finger drückten immer noch fest gegen seine Augäpfel.
»Alles klar, Mann, alles klar.« Er hob die leeren Hände. »Wenn Sie das Zeug nicht wollen, dann kaufen Sie es nicht. Ich versuche nur, mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen.«
Ich trat zurück und machte Platz, damit er sich von der Fassade lösen konnte, gegen die ich ihn gerammt hatte.
»Wo ich herkomme, klinkt man sich nicht ungefragt in die Köpfe anderer Leute ein«, erklärte ich meine Reaktion. Aber ihm war inzwischen klar, dass ich offenbar nicht interessiert war, den Konflikt eskalieren zu lassen, und er machte nur eine Geste mit dem Daumen, die, wie ich annahm, eine obszöne Bedeutung hatte.
»Interessiert mich einen Scheiß, wo du herkommst. Ein beschissener Grashüpfer? Hau ab!«
Ich entfernte mich und fragte mich müßig, ob es einen moralischen Unterschied zwischen ihm und den genetischen Designern gab, die Miriam Bancrofts Sleeve mit Merge-Neun-Drüsen ausgestattet hatten.
An einer Ecke blieb ich stehen und zündete mir eine Zigarette an.
Es war Nachmittag. Meine erste an diesem Tag.
12
Als ich mich an diesem Abend vor dem Spiegel umzog, wurde ich plötzlich von der Überzeugung überwältigt, dass jemand anderer meinen Sleeve trug und dass ich auf die Rolle des Beifahrers hinter der Windschutzscheibe der Augen zurückgestuft worden war.
Psychototalitätsintoleranz – so wurde es genannt. Oder einfach Fragmentation. Solche Anfälle waren nichts Ungewöhnliches, nicht einmal für einen erfahrenen Sleeve-Wechsler, aber das war mein schlimmster Koller seit Jahren. Eine Zeit lang hatte ich buchstäblich Angst davor, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, damit der Kerl im Spiegel nichts von meiner Anwesenheit bemerkte. Erstarrt beobachtete ich, wie er das Tebbit-Messer in der Neuralfederscheide zurechtrückte, wie er nacheinander die Nemex und die Philips in die Hand nahm und die Ladung beider Waffen überprüfte. Sie waren mit billigen Haftfaser-Holstern ausgestattet, die sich mittels Enzymbindungen an die Kleidung hefteten, wenn man sie kurz andrückte. Der Mann im Spiegel steckte sich die Nemex unter den linken Arm, wo sie unter der Jacke verborgen war, und verstaute die Philips hinten am Gürtel. Er übte ein paarmal die Waffen aus den Holstern zu ziehen und richtete sie auf sein Spiegelbild,
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