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Das Urteil

Titel: Das Urteil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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nicht hergehörte. Derrick hatte sonst nichts anzubieten. Er war sicher, daß er die richtige Kanzlei hatte, aber er hatte den falschen Namen erwischt, das falsche Spiel, und er hatte nicht vor, im Gefängnis zu landen.
    »Ich glaube, ich bin hier falsch«, sagte er, und sie bedachte ihn mit einem herablassenden kleinen Lächeln. Natürlich sind Sie das, also verschwinden Sie jetzt bitte. Er blieb an einem Tisch im Empfangsraum stehen und griff sich fünf Visitenkarten von einem kleinen Bronzegestell. Die würde er Cleve als Beweis für seinen Besuch hier zeigen.
    Er dankte ihr und verschwand eiligst. Angel wartete.
    Millie weinte und wälzte sich bis Mitternacht in ihrem Bett herum, dann zog sie ihr Lieblingskleidungsstück an, einen vielgetragenen roten Trainingsanzug, Größe XX-Large, ein Weihnachtsgeschenk von einem der Kinder vor vielen Jahren, und öffnete leise ihre Tür. Chuck, der Wachmann am anderen Ende, rief sie leise an. Sie wollte sich nur etwas zum Knabbern holen, erklärte sie, dann schlich sie über den schwach beleuchteten Korridor zum Partyzimmer, in dem sie ein schwaches Geräusch hörte. Drinnen saß Nicholas allein auf einem Sofa, aß Popcorn aus der Mikrowelle und trank Mineralwasser. Er sah sich ein australisches Rugbyspiel an.
    Niemand kümmerte sich mehr um Harkins Partyzimmer-Sperrstunde.
    »Weshalb sind Sie so spät noch auf?« fragte er und schaltete mit der Fernbedienung den Ton des Fernsehers aus. Millie ließ sich auf einem Stuhl in seiner Nähe nieder, mit dem Rücken zur Tür. Ihre Augen waren rot und verschwollen. Ihr graues Haar war verwuschelt. Es kümmerte sie nicht. Millie lebte in einem Haus, in dem es ständig von Teenagern wimmelte. Sie kamen und gingen, blieben über Nacht, schliefen, aßen, sahen fern, räumten den Kühlschrank aus, sahen sie alle in ihrem roten Anzug, und sie wollte es nicht anders haben. Millie war jedermanns Mutter.
    »Ich kann nicht schlafen. Und Sie?« sagte sie.
    »Es ist schwer, hier zu schlafen. Möchten Sie auch ein bißchen Popcorn?«
    »Nein, danke.«
    »War Hoppy heute abend hier?«
    »Ja.«
    »Er scheint ein netter Mann zu sein.«
    Sie schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Das ist er.« Sie saßen eine ganze Weile schweigend da und überlegten, was sie als nächstes sagen sollten. »Möchten Sie einen Film sehen?« fragte er schließlich.
    »Nein. Darf ich Sie etwas fragen?« sagte sie sehr ernst, und Nicholas schaltete mit der Fernbedienung den Fernseher aus. Die einzige Beleuchtung kam jetzt von einer schwachen Stehlampe.
    »Natürlich. Sie sehen besorgt aus.«
    »Das bin ich auch. Es ist eine juristische Frage.«
    »Ich werde versuchen, sie zu beantworten.«
    »Okay.« Sie atmete tief ein und preßte die Hände zusammen. »Was ist, wenn eine Geschworene zu der Überzeugung gelangt, daß sie nicht fair und unparteiisch sein kann? Was sollte sie tun?«
    Er betrachtete die Wand und dann die Decke und trank einen Schluck Wasser. »Ich nehme an, das hängt von den Gründen ab, die sie zu dieser Überzeugung veranlassen.«
    »Ich verstehe nicht, Nicholas.« Er war so ein netter Junge, und so intelligent. Ihr jüngster Sohn wollte Anwalt werden, und sie hatte sich dabei ertappt, daß sie sich wünschte, er würde einmal so tüchtig werden wie Nicholas.
    »Lassen Sie uns der Einfachheit halber auf die Hypothese verzichten«, sagte er. »Sagen wir, diese Geschworene sind in Wirklichkeit Sie selbst.«
    »Okay.«
    »Also ist seit dem Beginn des Prozesses etwas geschehen, das sich auf Ihre Fähigkeit auswirkt, fair und unparteiisch zu reagieren?«
    Langsam sagte sie: »Ja.«
    Er dachte einen Moment darüber nach, dann sagte er: »Ich nehme an, es hängt davon ab, ob es etwas war, das Sie im Gericht gehört haben, oder etwas, das außerhalb des Gerichts passiert ist. Von uns Geschworenen erwartet man, daß wir im Laufe des Verfahrens parteiisch und voreingenommen werden. Dagegen ist nichts einzuwenden. Das ist ein Teil unseres Entscheidungsprozesses.«
    Sie rieb sich das linke Auge und fragte langsam: »Was ist, wenn es nicht so ist? Was ist, wenn es etwas außerhalb des Gerichts ist?«
    Das schien ihn zu schockieren. »Wow. Das ist allerdings wesentlich ernster.«
    »Wie ernst?«
    Des dramatischen Effektes wegen stand Nicholas auf und ging ein paar Schritte zu einem Stuhl, den er so nahe an den von Millie heranzog, daß sich ihre Füße fast berührten.
    »Was ist passiert, Millie?« fragte er leise.
    »Ich brauche Hilfe, und es gibt niemanden, an

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