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Das Urteil

Titel: Das Urteil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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Erdgeschoß hören, aber im ersten Stock herrschte fast vollständige Stille. Er warf einen Blick in den Gerichtssaal und stellte fest, daß niemand dort war. Die Aktenkoffer waren eingetroffen und in einer bestimmten Ordnung auf den Tischen abgelegt worden. Die Anwälte waren vermutlich irgendwo im Hintergrund, in der Nähe der Kaffeemaschinen, erzählten sich Witze und bereiteten sich auf die Schlacht vor.
    Er kannte das Terrain gut. Drei Wochen zuvor, am Tag, nachdem er seine Ladung zum Geschworenen erhalten hatte, war er hergekommen und hatte sich umgeschaut. Der Gerichtssaal war gerade leer und unbenutzt gewesen, und er hatte die Korridore und Räume in seiner Umgebung erkundet das vollgestopfte Amtszimmer des Richters; den Raum, in dem die Anwälte an altertümlichen, mit alten Zeitschriften und neuen Zeitungen übersäten Tischen saßen und sich unterhielten; die improvisierten Zeugenzimmer mit Klappstühlen und ohne Fenster; die Haftzelle, in der die mit Handschellen Gefesselten und Gefährlichen auf ihre Strafe warteten; und natürlich das Geschworenenzimmer.
    An diesem Morgen hatte seine Ahnung nicht getrogen. Ihr Name war Lou Dell, und sie war eine pummelige Frau um die Sechzig in einer Polyesterhose und alten Turnschuhen und mit einer grauen Ponyfrisur. Sie saß auf dem Korridor vor der Tür zum Geschworenenzimmer, las in einem zerfledderten Liebesroman und wartete darauf, daß jemand in ihr Reich eindrang. Sie sprang auf, griff nach einem Blatt Papier, auf dem sie gesessen hatte, und sagte: »Guten Morgen. Kann ich Ihnen helfen?« Ihr ganzes Gesicht war ein einziges Lächeln. Ihre Augen funkelten vergnügt.
    »Nicholas Easter«, sagte er und ergriff ihre ausgestreckte Hand. Sie drückte sie fest, schüttelte sie kräftig und suchte in ihren Unterlagen nach seinem Namen. Ein weiteres, noch breiteres Lächeln, dann: »Willkommen im Geschworenenzimmer. Ist das Ihr erster Prozeß?«
    »Ja.«
    »Kommen Sie herein«, sagte sie und schob ihn praktisch durch die Tür in das Zimmer. »Kaffee und Doughnuts sind hier drüben«, sagte sie, wobei sie an seinem Ärmel zupfte und in eine Ecke deutete. »Die backe ich immer selbst«, sagte sie stolz und hob einen Korb mit fettigen, schwarzen Muffins hoch. »Eine Art Tradition. Die bringe ich am ersten Tag immer mit, nenne sie meine Jury-Muffins. Greifen Sie zu.«
    Auf dem Tisch befanden sich mehrere Arten von Doughnuts, jeweils auf einem anderen Tablett. Zwei volle Kaffeekannen dampften vor sich hin. Teller und Tassen, Löffel und Gabeln, Zucker, Sahne, verschiedene Arten von Süßstoff. Und in der Mitte des Tisches stand der Korb mit den Jury-Muffins. Nicholas nahm eines, weil ihm nichts anderes übrigblieb.
    »Die backe ich seit achtzehn Jahren«, sagte sie. »Früher habe ich Rosinen hineingetan, aber das mußte ich lassen.« Sie verdrehte die Augen, als wäre der Rest der Geschichte einfach zu skandalös.
    »Weshalb?« fragte er, weil er sich dazu gezwungen fühlte.
    »Verursachten ihnen Blähungen. Manchmal hört man im Gerichtssaal jeden Laut. Sie verstehen, was ich meine?«
    »Ich denke schon.«
    »Kaffee?«
    »Ich kann mir selber welchen eingießen.«
    »Gut.« Sie wirbelte herum und zeigte auf einen Stapel Papiere in der Mitte des langen Tisches. »Da ist eine Liste mit Anweisungen von Richter Harkin. Er will, daß jeder Geschworene ein Exemplar nimmt, es sorgfältig durchliest und abzeichnet. Ich werde sie später einsammeln.«
    »Danke.«
    »Ich bin draußen vor der Tür, falls Sie mich brauchen sollten. Und da bleibe ich auch. Diesmal ordnen sie mir so einen verdammten Deputy bei, können Sie sich das vorstellen? Mir wird regelrecht schlecht bei dem Gedanken. Wahrscheinlich so einen alten Esel, der mit seiner Schrotflinte nicht einmal eine Scheune treffen würde. Aber schließlich ist das vermutlich der größte Prozeß, den wir je hatten. Zivil, meine ich. Sie werden es nicht glauben, was für Strafprozesse wir schon gehabt haben.« Sie ergriff den Türknauf und zerrte ihn auf sich zu. »Ich bin draußen, falls Sie mich brauchen.«
    Die Tür wurde geschlossen, und Nicholas betrachtete die Muffins. Langsam nahm er einen kleinen Bissen. Sie bestanden fast nur aus Kleie und Zucker, und er dachte eine Sekunde lang an die Geräusche im Gerichtssaal. Er warf den Muffin in den Papierkorb und goß schwarzen Kaffee in einen Plastikbecher. Die Plastikbecher würden verschwinden müssen. Wenn sie wollten, daß er hier vier bis sechs Wochen kampierte, dann sollten sie

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