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Das Urteil

Titel: Das Urteil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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diverse Abschlüsse. Easters schriftliche Antworten gestanden den Abschluß der High-School ein, aber sein Studium war nach wie vor ein Geheimnis.
    Und während beide Seiten sich auf den ersten vollen Tag des eigentlichen Prozesses vorbereiteten, ging ihnen ständig die große Frage durch den Kopf, die Frage, über die sie endlose Vermutungen anstellten. Sie studierten die Sitzordnung, musterten zum millionstenmal die Gesichter und fragten sich immer und immer wieder: »Wer wird der Anführer sein?«
    Jede Jury hat einen Anführer, und von ihm hängt am Ende das Urteil ab. Wird er sich gleich zu erkennen geben? Oder läßt er sich Zeit und übernimmt erst während der Beratungen das Ruder? Das wußten zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal die Geschworenen selbst.
    Um Punkt zehn Uhr ließ Richter Harkin den Blick über den vollbesetzten Gerichtssaal schweifen; jedermann befand sich an seinem Platz. Er klopfte leicht mit seinem Hammer, und das Geflüster brach ab. Alle waren bereit. Er nickte Pete, seinem alten Gerichtsdiener in seiner ausgeblichenen braunen Uniform, zu und sagte: »Holen Sie die Jury.« Aller Augen richteten sich auf die Tür neben der Geschworenenbank. Lou Dell erschien zuerst, wie eine Glucke, die ihre Küken anführt, dann kamen einer nach dem anderen die zwölf Auserwählten und nahmen ihre Plätze ein. Die drei Stellvertreter setzten sich auf die Klappstühle. Nach einer kurzen Zeit der Unruhe, in der sie Sitzkissen und Rocksäume zurechtrückten und Handtaschen und Taschenbücher auf dem Fußboden deponierten, kamen die Geschworenen zur Ruhe und registrierten natürlich, daß sie angestarrt wurden.
    »Guten Morgen«, sagte Seine Ehren mit lauter Stimme und einem breiten Lächeln. Die meisten von ihnen reagierten mit einem Nicken.
    »Ich nehme an, Sie haben das Geschworenenzimmer gefunden und sich miteinander bekannt gemacht.« Eine Pause, in der er aus irgendeinem Grund die fünfzehn abgezeichneten Formulare hochhob, die Lou Dell verteilt und dann wieder eingesammelt hatte. »Haben wir einen Obmann?« fragte er. Alle zwölf nickten gleichzeitig. »Gut. Wer ist es?«
    »Ich, Euer Ehren«, sagte Herman Grimes von der ersten Reihe aus, und einen kurzen Moment lang litten die gesamte Verteidigung, ihre sämtlichen Anwälte, die Jury-Berater und die Vertreter des beklagten Konzerns unter einem kollektiven Herzkrampf. Dann atmeten sie wieder, langsam, gaben aber nicht einmal den geringsten Hinweis darauf, daß sie für den blinden Geschworenen, der jetzt der Obmann war, etwas anderes empfanden als nur die allergrößte Liebe und Zuneigung. Vielleicht hatte der alte Junge den anderen elf Geschworenen einfach nur leid getan.
    »Sehr schön«, sagte Seine Ehren, erleichtert, daß seine Jury imstande gewesen war, diese Routinewahl ohne erkennbare Verbitterungen zu treffen. Er hatte schon viel Schlimmeres erlebt. Eine Jury, halb weiß, halb schwarz, war außerstande gewesen, einen Obmann zu wählen. Später hatte es auch noch eine Schlägerei wegen der Lunch-Speisekarte gegeben.
    »Ich gehe davon aus, daß Sie meine schriftlichen Anweisungen gelesen haben«, fuhr er fort und stürzte sich dann in einen detaillierten Vortrag, bei dem er alles, was er bereits zu Papier gebracht hatte, noch zweimal wiederholte.
    Nicholas Easter saß in der vorderen Reihe, als zweiter von links. Er ließ sein Gesicht zu einer nichtssagenden Maske erstarren, und während Harkin seinen Text herunterleierte, machte er sich daran, die restlichen Mitspieler zu mustern. Fast ohne den Kopf zu bewegen, ließ er seine Augen über den Gerichtssaal schweifen. Die Anwälte, um ihre Tische geschart wie Geier, die im Begriff sind, sich auf ein überfahrenes Tier zu stürzen, starrten ausnahmslos völlig unverfroren die Geschworenen an. Aber das würden sie bestimmt bald satt haben.
    In der zweiten Reihe hinter der Verteidigung saß Rankin Fitch; das speckige Gesicht und der finstere Spitzbart waren direkt auf die Schultern des vor ihm sitzenden Mannes gerichtet. Er versuchte, Harkins Ermahnungen zu ignorieren und tat so, als wäre er an der Jury nicht im mindesten interessiert, aber Nicholas wußte es besser. Fitch entging nichts.
    Vierzehn Monate zuvor hatte Nicholas ihn beim Cimmino-Prozeß im Gerichtssaal von Allentown, Pennsylvania, gesehen, wo er so ziemlich genauso ausgesehen hatte wie jetzt dick und nichtssagend. Und er hatte ihn während des Glavine-Prozesses auf dem Gehsteig vor dem Gerichtsgebäude von Broken Arrow, Oklahoma,

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