Das Urteil
machte Aufwärm- Übungen für den Zeitpunkt, wenn der Richter den Saal betre ten würde. Jeder hatte sein eigenes Programm.
Hardy spazierte den Mittelgang hoch und wieder hinaus auf den Flur. Sie hatten noch zwanzig Minuten Zeit.
Die Aktenmappe neben sich und in einige Papiere vertieft saß Ken Lightner auf der Holzbank im Flur gegenüber von der Kammer 22. Hardy setzte sich neben ihn. »Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Es sieht ganz so aus, als hätten Sie recht.«
Lightner legte die Papiere aus der Hand. »Womit? Obwohl ich jetzt im Moment wohl alles akzeptieren würde.«
»Damit, daß Jennifers Mutter von ihrem Mann verprügelt wird.«
Der Psychiater nickte und sortierte seine Unterlagen. Dies war offenkundig keine Neuigkeit für ihn.
»Sind Sie enttäuscht?«
»Ich dachte, Sie hätten vielleicht etwas Wichtigeres herausgefunden, irgendwas über Jennifer selbst.«
Hardy schüttelte den Kopf. »Jennifer ist äußerst verschlos sen. Besonders nach dem Fiasko mit der Flucht. Freeman rauft sich die Haare, soweit er noch welche hat.«
»Auch ich raufe mir die Haare. Sie hat mir verboten, dar über zu reden, was angesichts ihres Aufenthaltsorts unsere Geprächsthemen merklich einschränkt. Wie sollen wir denn nicht darüber reden?«
»Worüber genau?«
»Über die Wahrheit. Daß Larry sie geschlagen hat. Sie mißhandelt hat. Was sie durchgemacht hat. Um von all dem Irrwitz der letzten Monate zu schweigen. Wie soll sie denn mit all dem klarkommen?« Lightner strich sein Haar mit den Fingern zurück.
»Sie haben Sie demnach besucht?«
»Ich habe sie besucht. Ich versuche, beinahe jeden Tag bei ihr vorbeizuschauen.«
»Das muß Ihre Praxis verteufelt teuer zu stehen kommen.«
Hardy hatte es nicht als Vorwurf gemeint, aber Lightner setzte sich unverzüglich kerzengerade hin. »Ich sorge für meine Patienten, Mr. Hardy. Ich sorge mich um sie. Ich versuche, für sie da zu sein, wenn sie mich brauchen. Was ich auch von Ihnen im Umgang mit Ihren Mandanten annehme.«
Hardy schluckte die Zurechtweisung. Lightner hatte recht. Manchmal hielt man sich nicht an die Stechuhr. »Wollen Sie eine zweite Entschuldigung innerhalb von fünf Minuten annehmen? Das kam nicht so rüber, wie ich es gemeint hatte.«
Lightner zuckte die Achseln. »Geht schon in Ordnung. Ich habe selber ziemlichen Streß. Ich will nicht alle Welt anraunzen, aber ich weiß nicht, was ich machen soll, was ich mit Jennifer machen soll. Ihre irrationalen Schuldgefühle, ihre selbstzerstörerische Art... es läßt mich an meinem Urteilsvermögen zweifeln, ich frage mich, ob ich ihr überhaupt helfen kann.«
»Was könnte ihr denn Ihrer Ansicht nach helfen?«
»Ich weiß es im Moment nicht. Ich weiß es nicht. Das Problem ist, daß ich sie nicht dazu bewegen kann, über ihr wirkliches Problem zu sprechen, ja es überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.«
»Also worüber haben sie sich denn dann Tag für Tag unterhalten?«
Lightners Miene verriet, daß er wußte, wie es sich unter diesen Umständen anhören mußte. »Wir reden über ihr Selbstwertgefühl, Mr. Hardy. Daß sie endlich erwachsen wird, Verantwortung für sich übernimmt. Über ihre Zukunft.«
»Ihre Zukunft?«
»Ich weiß, ich weiß, wir müssen das nicht näher ausführen.« Lightner hatte seine Papiere weggelegt, rieb sich die Hände. Er hob die Augen und sah Hardy an. »Aber das ist es, worüber sie reden will. Daß sie endlich ihre Sachen geregelt bekommt. Sie sagt, sie weiß, daß sie vermutlich aus dem ganzen Schlamassel herauskommen könnte, wenn sie Larry die Schuld zuschiebt, doch sie wird es einfach nicht tun. Es sei nicht sein Fehler gewesen.«
»Daß er sie verprügelt hat, war nicht sein Fehler? Was ist mit ihrer Behauptung, daß sie die Tat nicht begangen hat und daß eine Berufung auf das BWS ein Schuldeingeständnis wäre?«
Lightner nickte. »Ja, ich fürchte, an dem Punkt ist nichts zu wollen. Solche Einstellungen sind tiefverwurzelt.« Er stand auf und nahm seine Aktenmappe, fragte, wo die Herrentoilette sei und ob ihm noch Zeit bleibe, bevor die Festlegung des Verhandlungstermins anfing.
Er war schon um die Ecke verschwunden, ehe Hardy registrierte, daß Lightner einige der Papiere liegengelassen hatte. Als er einen Blick darauf warf und den Namen Jennifer Witt sah, der mit gelbem Leuchtstift markiert war, nahm Hardy die Papiere an sich.
Die erste Seite war ein Erstanmeldungsbogen aus Lightners Praxis, den Jennifer vor vier Jahren ausgefüllt hatte und der
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