Das Urteil
Samstag.
Er hatte keine Ahnung, wo Frannie und die Kinder steckten, und es beunruhigte ihn wider jede Vernunft. Auf dem Heimweg hatte er über Jennifer und Larry und die Romans und das Anamneseblatt nachgedacht, das Lightner - absichtlich? - liegengelassen hatte, damit Hardy es einstecken konnte.
Alle diese Gedanken waren jetzt wie fortgeblasen. Er ging ins Zimmer von Vincent und sah durchs Fenster nach unten, weil er wissen wollte, ob sie vielleicht trotz der Kälte des Juliabends im Garten spielten. Da waren sie aber nicht. Er fütterte die Tropenfische im Elternschlafzimmer und sah auf die Uhr, war schon im Begriff, die Nummer des Shamrock zu wählen, entschied sich dann dagegen, sah wieder nach der Uhr. Er hatte keine Ahnung, wo sie stecken mochten. Es war kein Zettel da.
Er hatte keine Lust, hier herumzusitzen und zu warten, sich von der alten Leere durchdringen zu lassen. Das war etwas, das er hinter sich gebracht hatte, und daß es so urplötzlich wieder aufgetaucht war, war ihm unheimlich. Ob mit den Kindern alles in Ordnung war? Mußte Frannie rasch zur Notaufnahme losdüsen, hatte sie nicht einmal die Zeit gehabt, ihm eine Notiz auf einen Block zu kritzeln? Er marschierte von der Küche zur Haustür und wieder zurück durch die einzelnen Zimmer und sagte sich, daß er nicht nach Blutstropfen auf dem Fußboden suchte.
Im Schlafzimmer zog er seinen Anzug aus und kurze Hosen, ein Sweatshirt und Tennisschuhe an. Er hatte eine feste, vier Meilen lange Strecke, die er von zu Hause runter zum Strand und durch den Golden Gate Park entlang der Lincoln Street zum Shamrock an der 9th Avenue und von dort wieder nach Hause lief. Er brauchte rund fünfundvierzig Minuten dafür.
Er sah auf die Uhr. Er würde um sieben wieder zu Hause sein. Er schrieb einen Zettel und steckte ihn in der Küche unter einen Salzstreuer. Zumindest würde Frannie wissen, wo er abgeblieben war.
In der Küche begrüßte ihn Frannie mit einem Kuß. Sie war gerade dabei, ihre Spaghettisauce mit Vongole und Weißwein zu rühren und summte ein Lied. Rebecca goß Wasser aus einer Gießkanne und bekam immerhin fast die Hälfte davon in die verschiedenen Pfannen und Tiegel, die sie auf dem Fußboden arrangiert hatte. Vincent saß neben ihr in seinem Hochstuhl. Die Fenster waren vom Dampf des kochenden Wassers beschlagen. Die Sonne stand noch immer am Himmel. In diesem Haus war nichts Leeres oder Unheimliches oder Düsteres.
Hardy ging unter die Dusche, haderte mit sich wegen seiner Paranoia und fragte sich, wie er so alt hatte werden können.
22
Am Mittwoch kurz nach zwölf saß Jennifer auf der Bank im Besucherraum des Gefängnisses, und plötzlich hörte man, daß weiter hinten irgendein Gegenstand gegen die Gitterstäbe krachte und von dort zu Boden schepperte. Frannie fuhr erschrocken hoch. Sie setzte sich wieder und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich hasse diese Art von Krach. Ich spring jedesmal im Sechseck.«
»Mich stört's eigentlich gar nicht mehr. Ich schätze, ich bin es gewohnt.« Jennifer sah hinunter auf ihre Hände. »Larry hat manchmal mit Sachen um sich geworfen, also wußte ich, wenn ich das Geräusch hörte, daß das Schlimmste schon vorbei war.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Sie wissen schon, die Anspannung, das Warten darauf, daß er in die Luft geht. Es war fast eine Erleichterung, wenn es dann passierte.«
Frannie legte die Hand auf das Plexiglas. Jennifer legte die ihre auf der anderen Seite gegen die Scheibe. Die Geste hatte sich zwischen ihnen eingebürgert, war eine Art Signal, eine indirekte Berührung. Dies war ihr drittes Treffen. Die Hände blieben, wo sie waren. Frannie starrte auf die Hände, auf ihren Ehering. Sie wurde blaß.
»Alles in Ordnung?« fragte Jennifer
»Doch, alles bestens. Nur manchmal...«
»Was?«
» Tut mir leid. Ein Augenblick der Schwäche. Es ist nichts.« Sie lächelte wieder, aber nur halbherzig. »Ich weiß nicht, was es ist.«
»Sie sehen traurig aus.«
Frannie nickte. »Genauso fühlt es sich an. Als ob urplötzlich alles keinen ...« - sie suchte nach dem richtigen Wort - »... keinen vollen Klang mehr hat, würde ich sagen.«
»Vielleicht ist es bloß die Hormonumstellung nach der Entbindung. Das kann ein halbes Jahr dauern, wissen Sie, manch mal länger. Nach Matt ...«, sie machte eine Pause, war überrascht von dem Namen, der aus dem Nichts aufgetaucht war. Sie holte tief Luft, zwang sich weiterzusprechen, »... nach Matt kam erst eine euphorische Phase, dann
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