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Das Urteil

Das Urteil

Titel: Das Urteil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John T. Lescroart
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analysierte.
    Die Leute, die im Justizpalast arbeiteten, unterhielten sich in einer Art Code. San Francisco genoß zu Recht den Ruf, die politisch korrekteste Stadt Amerikas zu sein, und man konnte seinen Job verlieren oder noch Schlimmeres, wenn man bei der Stadtverwaltung angestellt war und unachtsam ein Wort verlauten ließ, das nicht von der einen oder anderen Gruppe offiziell gebilligt - oder offiziell geächtet - worden war.
    Die Leute bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft zählten zu denjenigen, die das feinste Ohr für Unzulässigkeiten in diesem Bereich hatten, und so war es zu erklären, daß sie für den internen Gebrauch auch den ausgefeiltesten Code entwickelt hatten. Besucher konnten den halben Tag im Justizgebäude zubringen, während überall ringsum Leute miteinander plauder ten, und sich doch absolut getäuscht haben in dem, was sie zuhören gemeint hatten.
    Dean Powell, der sich um das Amt des Generalstaatsanwalts des Staates Kalifornien bewarb, mußte nach wie vor als An klagevertreter klarkommen, und gerade in der Zeit bis November war er sorgsam darauf bedacht, nicht zuviel Code zu benutzen. Trotzdem brauchte er keinen Dolmetscher.
    »Wenn Sie mich fragen«, sagte Tony Feeney soeben zu ihm, »haben wir hier einen klassischen Fall von DNBD. Ge schäftsfrau, Streit wegen Finanzierungsfragen. Beide Betei ligte Kanadier. Meiner Meinung nach wird sie einen Rückzie her machen wie die drei anderen Male.«
    Feeney war ein anderer Staatsanwalt, der die Meinung des erfahreneren Kollegen einholte, ob er sich überhaupt die Mühe machen sollte, Anklage gegen Mr. Duncan J. Dunlap wegen schwerer Körperverletzung zu erheben, begangen an seiner Freundin Byna Lewes, mit der Dunlap zusammenlebte - einer »Geschäftsfrau«.
    DNBD war der Code für einen Fall, in dem der Angeklagte der felsenfesten und üblicherweise auch lautstark den Polizisten gegenüber zum Ausdruck gebrachten Überzeugung war, daß die Frau, die er soeben wüst verprügelt oder totgeschlagen hatte, den Angriff aus eigenem Verschulden provoziert hätte. DNBD war die Kurzformel für Die Nutte Brauchte Das. Im vorliegenden Fall war Dunlap der Meinung, daß Lewes ihm Geld vorenthalte und sich womöglich einen anderen Zuhälter suchen wolle. Feeney war der Ansicht, daß Lewes »einen Rückzieher« machen werde, was bedeutete, daß sie die Zeu genaussage verweigern oder, was sogar noch schöner wäre, im Zeugenstand die vorher gemachte Aussage abändern würde. Und, nebenbei bemerkt, waren beide Beteiligte Afroamerika ner, die von den Gesetzeshütern »Kanadier« genannt wurden, damit sich niemand beleidigt fühlen konnte, der zufällig nahe genug dabeistand, um mitzuhören.
    Byna Lewes hatte bereits bei drei früheren Gelegenheiten, als er sie verprügelt hatte, versprochen, gegen Mr. Dunlap auszusagen, doch jedesmal hatte sie klein beigegeben und ver kündet, daß es ihm (diesmal) aufrichtig leid tue und er sie wirklich von Herzen liebe. Er brauchte nur etwas Hilfe. Viel leicht könnte ja die Stadtkasse mithelfen, ihm eine Therapie zu bezahlen.
    Powell verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Haben Sie sich eigentlich jemals gefragt, warum wir all das hier über haupt machen?«
    Feeney wußte keine Antwort. Er saß Powell gegenüber und hoffte, daß dieser sich an ihn erinnern würde, sofern er Glück hätte und seinen Amtssitz nach Sacramento verlegte.
    »Wie übel war sie denn zugerichtet?« Feeney klappte den Aktenordner auf und wollte die Fotos hervorholen. Doch Powell streckte ihm abwehrend eine Hand entgegen. »Be schreiben Sie's mir einfach, Tony. Wie übel?«
    Die Polaroidaufnahmen waren von dem Polizeibeamten, der die Verhaftung durchgeführt hatte, kurz nach dem tät lichen Angriff in Bynas Zimmer im Krankenhaus gemacht worden, bevor man sie verbunden hatte. Ihr linkes Auge war zugeschwollen, das Nasenbein sah gebrochen aus, Haare und Ohr waren blutverschmiert. Feeney warf einen Blick in den Polizeibericht und sah, daß auch ihr Arm ausgekugelt war. »Nicht besonders übel«, sagte er, »ungefähr Durchschnitt.«
    »Erheben wir Anklage?«
    Powell kam zum Kern der Sache. Falls Byna - das Opfer - gewillt war, beim Verfahren gegen Mr. Dunlap zu kooperie ren, würde man Anklage gegen diesen erheben, der Fall gerichtlich verfolgt werden. Sofern andererseits das Tatopfer es vorzog, der Staatsanwaltschaft nicht zu helfen, und sich weigerte, vor Gericht zu erscheinen und als Zeugin auszusagen -was bei solchen Fällen sehr häufig

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