Das verborgene Kind
was eine Erleichterung war, denn es wäre ihr ein wenig peinlich gewesen, eingestehen zu müssen, dass keiner ihrer Söhne oder deren Familien sie seit Langem besucht hatte. Natürlich war ihr Haus winzig, sodass es ein Problem war, sie alle unterzubringen – aber trotzdem ...
Ein Motorengeräusch ertönte, und Autotüren knallten zu, und Matt erschien, gefolgt von einer sehr kleinen Dunkelhaarigen. Sie lächelte strahlend, als Nick und Lottie aufstanden, um die beiden zu begrüßen.
Venetia beobachtete alles und rührte sich nicht. Das Mädchen ist ganz hübsch, dachte sie, obwohl sie noch nie viel von diesem winzigen, dunkelhaarigen, gekünstelten Typ gehalten hatte. Sie mochte keine ungewöhnlich kleinen Frauen; sie erinnerten Venetia zu sehr an Hunde, die wegen ihres Kleinwuchses immer wie niedliche Welpen behandelt wurden, obwohl sie in Wahrheit ausgewachsen und bissig waren. Ihr fiel auf, dass Annabel bei Milo bereits die mädchenhafte Rolle spielte, sich zurückhielt und schüchtern lächelte, während sie versuchte, Pud mit dem Fuß auf Distanz zu halten. Nun ließ der hochgewachsene Nick seinen Charme spielen und beugte sich leicht hinunter, und Venetia hätte am liebsten laut über Annabels Miene gelacht, die auf subtile Weise seine Attraktivität würdigte, während sie durchblicken ließ, dass sie bereits anderweitig gebunden sei, andernfalls aber interessiert wäre. Nick wirkte geschmeichelt – ein schlagendes Beispiel für seinen Mangel an Menschenkenntnis. Er erkundigte sich, ob sie eine gute Reise gehabt habe. Annabel antwortete, schob Pud noch einmal verstohlen mit dem Fuß weg und nahm von Matt ein Glas Martini entgegen, während sie ihm einen unauffälligen Blick zuwarf, der besagte, dass sie sich ein ganz klein wenig überfordert fühle und seinen Beistand brauche. Er jedoch nahm das unauffällige Signal gar nicht wahr.
Venetia atmete tief und genüsslich ein. Eines war sicher: Annabel war nicht die Richtige für Matt. Jetzt wusste sie genau, wie sie mit ihr umgehen würde.
Sie sah, dass Lottie sie beobachtete. Ihre Lippen waren zu einem leisen Lächeln verzogen, aber sie kniff die Augen leicht zusammen, als wolle sie Venetia einschärfen, sich zu benehmen. Venetia schickte ihr ein strahlendes Lächeln zurück – natürlich, Lottie entging nie etwas – und stand auf. Matt trat mit Annabel auf sie zu. »Und das ist Venetia«, sagte er.
Es war typisch für Matt, dass er keinerlei Notwendigkeit sah, Venetia für Annabel in irgendeinen Zusammenhang zu bringen; was ihn anging, war eine solche Einordnung nicht nötig. Venetia war das recht. Sie spielte mit dem Gedanken zu sagen: »Ich bin Milos Geliebte«, hielt sich aber zurück, weil sie alle Menschen um sich herum mochte, obwohl nur Nick wirklich peinlich berührt gewesen wäre. Stattdessen nahm sie Annabels Hand und murmelte eine Begrüßung. Sie bemerkte, dass die junge Frau sich nicht im Geringsten für sie interessierte, sich aber höflich und respektvoll gab, obwohl ihr Blick sofort zurück zu Nick und Matt huschte.
Venetia gefiel es nicht, dass man sie wie eine alte Frau behandelte, die unsichtbar war, und nicht als eigenständige Person wahrnahm.
»Und das ist Pud«, erklärte sie munter. »Das wichtigste Familienmitglied. Ich hoffe doch, Sie mögen Hunde?«
Für eine glückselige Sekunde nahm Venetia einen unverhüllten Ausdruck von Ärger auf Annabels Gesicht wahr, den sie rasch überspielte, bevor sie sich unter unaufrichtigen Freudenschreien zu dem hoffnungsvoll lauernden Spaniel hinunterbeugte. Venetia lächelte triumphierend, während sie beobachte, wie Annabel Pud zögerlich streichelte und sich dabei bemühte, so auszusehen, als mache ihr das Spaß.
»Offenbar hat er Sie ins Herz geschlossen«, meinte sie. »Als Nächstes schläft er auf Ihrem Bett.«
Dann kam Milo wieder und erklärte, das Essen sei fertig.
Venetia leerte ihren Gin Tonic und folgte den anderen ins Esszimmer.
Lottie zeigte Annabel ihr Zimmer. Annabel machte all die richtigen Bemerkungen, die dankbar Anerkennung, Staunen und Freude über die Aussicht zum Ausdruck brachten. Nachdem Lottie gegangen war, setzte sie sich aufs Bett und erlaubte sich zum ersten Mal, seit sie aus dem Zug gestiegen war, einen Moment der Entspannung. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben, dass sie jetzt ziemlich erschöpft war. Natürlich hatte sie gewusst, dass es vielleicht nicht ganz einfach werden würde; schließlich war sie es gewesen, die Matt so lange bedrängt hatte, bis
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