Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
wieder dort. In Maroc . Manche Erinnerungen sind zu kostbar, um sie aufs Spiel zu setzen. Wissen Sie, was ich meine? Ich will, dass es dort immer so ist wie jetzt, in meinem Kopf.«
»Ja, das verstehe ich.« Zach war überrascht, das französisch ausgesprochene Wort Maroc aus ihrem Mund zu hören. »Wie lange waren Sie mit ihm dort?«
»Vier Wochen. Die schönsten vier Wochen meines Lebens«, antwortete sie.
Dimity schloss die Augen und sah ein so starkes Licht, dass alles rot zu glühen schien. Das war ihr erster Eindruck von der Wüste gewesen, das Erste, woran sie sich erinnerte. Und der Geruch, der Geschmack der Luft. Ganz anders als die Luft in Dorset – so anders fühlte sie sich in der Kehle an und in ihrer Nase, so neuartig füllte sie ihre Lunge und strich ihr durch das Haar. Sie konnte die sengende Hitze auf der Haut spüren, obwohl sie an ihrem eigenen Küchentisch saß und die Kante der klebrigen Linoleumtischplatte sich in ihre Handballen drückte. Sie versuchte, die richtigen Worte zu finden. Worte, die irgendwie all das vermitteln konnten, was sie gesehen und gespürt und gerochen hatte, um es wieder zum Leben zu erwecken. Langsam atmete sie ein, und Valentinas Stimme hallte zornig die Treppe herunter. Marokko? Wo zum Teufel soll das denn sein? Plötzlich sah sie Valentinas blutunterlaufene Augen und den verwirrten Blick vor sich, mit dem ihre Mutter zu ergründen versuchte, wie viel eine solche Reise wohl wert war. Und wie, in Gottes Namen, ist es überhaupt dazu gekommen? Sie fragte sich, ob es ihre Mutter gewesen war, die diese Reise mit einem Fluch belegt hatte. Hatten Valentinas Neid und Bosheit die vier schönsten Wochen ihres Lebens zugleich zu den schlimmsten gemacht?
7
Dimity wartete. Sie wartete darauf, dass Charles Aubrey und seine Familie zurückkehrten, und das Warten ließ ihr den Winter länger denn je erscheinen. Dimity verbrachte ihn allein. Wilf arbeitete immer mehr, gemeinsam mit seinem Vater und seinen Brüdern, und sie trafen sich nur noch selten. Wenn sie sich sahen, war er so herzlich und begierig wie stets, aber Dimity war abgelenkt, mit den Gedanken nur halb bei ihm, und oft ging er frustriert wieder nach Hause. Dimity streifte über die Klippen, den Strand, die Hecken entlang. Sie pflückte Körbe voll glatter, weißer Wiesenchampignons und ging damit von Tür zu Tür, um ein paar Pennys zu verdienen. Sie trieb sich im Dorf herum, weil sie die Gesellschaft anderer Menschen vermisste, doch mehr denn je fiel ihr auf, wie die Blicke der Leute über sie hinwegglitten, kalt und abweisend. Niemand beachtete sie so wie Charles.
Sie kamen später als üblich, erst Anfang Juli. In den letzten beiden Juniwochen sah Dimity viermal täglich nach, ob sie noch nicht in Littlecombe eingetroffen waren. Grauen und Sorge lagen ihr wie ein schwerer Stein im Magen, sodass sie kaum etwas essen oder klar denken konnte. Valentina schüttelte sie, beschimpfte sie ständig und versetzte ihr einen Stoß, dass sie sich den Kopf an der Wand aufschlug, als sie einmal die Kartoffeln auf dem Herd stehen ließ, bis alles Wasser verkocht war. Sie zwang sie, ein Tonikum aus Eichenrinde zu trinken, damit sie Appetit bekam, weil Dimitys knöcherne Schlüsselbeine hervorstanden und ihre Wangen hohl und fahl waren.
»Bis zu diesem Winter hast du jünger ausgesehen, als du warst, Mitzy. Besser, das bleibt so. Kein Mann wird dich wollen, wenn du vor der Zeit alt aussiehst.« Stirnrunzelnd presste sie den Becher mit dem bitteren Tonikum an die widerwilligen Lippen ihrer Tochter. »Marty Coulson hat neulich schon nach dir gefragt. Was sagst du dazu?«, fragte sie knapp und besaß immerhin noch so viel Anstand, den Blick abzuwenden, als Dimity begriff, was damit gemeint war, und entsetzt die Augen aufriss. Dimity gab einen erstickten Laut von sich und brachte kein Wort heraus. Barsch erklärte Valentina: »Wir müssen alle von irgendetwas leben, Mitzy. Du hast nicht umsonst so ein Gesicht, und wenn dein Künstler dieses Jahr nicht auftaucht … Tja, dann wirst du eine andere Möglichkeit finden müssen, damit Geld zu verdienen.«
Es war warm und sonnig an dem Vormittag, als sie endlich kamen. Dimity saß auf einem Weidetor westlich von Littlecombe, als sie den Kalkstaub der trockenen Schafwäsche über dem Weg aufwirbeln sah – die Staubwolke kündigte an, dass jemand kam. Als der blaue Wagen vor dem Haus hielt, wurde ihr ganz schwach vor Erleichterung, sodass sie vom Tor rutschte und auf dem staubigen Boden
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