Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Hornes Boot – Zach war sicher, dass es seines gewesen war – langsam durch die Bucht getrieben war. Er dachte an den Lichtblitz, den er gesehen hatte, als schaute jemand an Bord durch ein Fernglas. Auf Hannah, die wie eine Markierung das Ende des unsichtbaren Damms anzeigte. Diese Gedanken bereiteten ihm Sorgen, doch er konnte sie nicht abschütteln. Ein ungutes, geradezu scheußliches Gefühl setzte sich tief in ihm fest und wurde beständig stärker.
Erst später am Nachmittag machte Zach sich wieder auf den Weg zu seinem verschobenen Besuch bei Dimity Hatcher. Wie er es ihr versprochen hatte, stellte er keine Fragen über die Aubreys. Stattdessen unterhielten sie sich über seine eigene Vergangenheit, seinen Werdegang, seine Fa milie, und dabei kamen sie unweigerlich auf die Frage seiner Abstammung zu sprechen. Dimitys Stimme klang auf einmal zurückhaltend, beinahe verstohlen, als sie sich nach seiner Großmutter erkundigte.
»Dieser Sommer, in dem Ihre Großmutter hier war – das war 1939, oder? Tja, das war der Sommer, in dem Charles und ich endlich zusammen waren, wissen Sie? Meinen Sie nicht, dass ich es gewusst hätte, wenn da noch eine andere Frau im Spiel gewesen wäre?« Mit Daumen und Zeigefinger zupfte sie an einem losen Faden an ihrem Handschuh.
»Ja, da haben Sie wohl recht«, entgegnete Zach und dachte bei sich, dass es einem Mann wie Charles Aubrey nicht schwergefallen sein dürfte, eine Frau glauben zu lassen, dass sie die Einzige sei.
»Wie war Ihr Großvater denn so? War er ein starker Mann?«
»Ja, ich denke schon.«
»Stark genug, um eine Frau an seiner Seite zu halten?«
Zach stellte sich seinen Großvater vor, der sonntags nach dem Mittagessen stundenlang mit der Zeitung auf den Knien dasaß und niemanden auch nur einen Blick hineinwerfen ließ, ehe er nicht das Kreuzworträtsel gelöst hatte. Er ver suchte sich zu erinnern, ob er je Gesten der Zärtlichkeit oder Zuneigung zwischen seinen Großeltern beobachtet hatte, doch je länger er darüber nachdachte, desto mehr wurde ihm bewusst, wie selten die beiden sich auch nur im selben Raum aufgehalten hatten. Wenn er im Wohnzimmer saß, war sie in der Küche. War er im Garten, ging sie hinauf in ihr Ankleidezimmer, um ihr Aubrey-Bild zu betrachten. Beim Abendessen saßen sie sich an den entfernten Enden eines gut zwei Meter langen Tisches gegenüber. Es konnte doch aber nicht immer so gewesen sein? Gewiss war diese Distanz zwischen ihnen über sechzig lange Ehejahre gewachsen.
»Sagen Sie mir nur eines«, unterbrach Dimity seine Gedanken. »Wenn Ihr Großvater wirklich geglaubt hätte, dass sie eine Affäre mit meinem Charles hatte, warum um alles in der Welt hat er sie dann trotzdem geheiratet?«
»Nun ja, weil sie schwanger war, nehme ich an. Deshalb mussten sie die Hochzeit vorziehen.«
»Also muss er geglaubt haben, dass das Baby von ihm war.«
»Zunächst, ja. Nehme ich an. Außer, er wollte sich einfach – ehrenhaft verhalten.«
»War er denn so ein Mann? Einer von der ritterlichen Sorte? Von denen habe ich in meinem Leben herzlich wenige kennengelernt.«
»Nein, das würde ich so nicht sagen … Aber er könnte es getan haben, um sich moralisch überlegen zu fühlen, Sie wissen schon.«
»Sie meinen, um sie zu bestrafen?«, fragte Dimity.
»Na ja, nicht direkt …«
»Aber das wäre eine Strafe gewesen. Wenn er es gewusst hätte, und sie wusste, dass er es wusste. Welche bessere Möglichkeit hätte es gegeben, sie jeden Tag ihres Lebens daran zu erinnern und sie dafür leiden zu lassen, als sie zu heiraten?«
»Also, falls das sein Plan war, dann ist der Schuss nach hinten losgegangen. Sie hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, wie stolz sie auf die Verbindung zu Charles Aubrey war. Auf die skandalösen Gerüchte.«
»Tja, das war eben Charles. Wenn sie …« Dimity unterbrach sich, und ihre Miene drückte plötzlichen Schmerz aus, der ihr kurz die Sprache raubte. »Wenn sie ihn wirklich geliebt hat, dann wäre sie stolz darauf gewesen und hätte sich dessen nie geschämt.« Sie senkte den Kopf und rieb mit dem Daumen die Handfläche der anderen Hand. »Also stimmt es vielleicht doch. Vielleicht hat sie ihn tatsächlich geliebt.«
»Aber ich bin sicher …« Zach nahm eine von Dimitys rastlosen Händen und drückte sie. »Ich bin sicher, dass er Sie deshalb nicht weniger liebte. Selbst wenn sie ihn geliebt hat, so könnte es doch unerwiderte Liebe gewesen sein. Gut möglich, dass er sich gar nichts aus ihr gemacht
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