Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
stattdessen, wie man Wasserkresse von Sumpfdotterblumen unterscheiden konnte, weil in der Nähe so viel davon wuchs und die Kaninchen fast ihre ganze Salaternte weggefressen hatten. Das dünne junge Mädchen war eine gute Schülerin, und im Lauf der Tage führten sie ihre Lehrstunden immer weiter weg von Littlecombe, an den Klippen entlang oder landeinwärts bis zum Wald, wobei sie stets das Dorf umgingen und sich von The Watch fernhielten. Bald ergänzte Delphine unter Mitzys Anleitung Celestes Küchenvorräte um wilden Fenchel, Spieß-Melde, Majoran, Meerrettichwurzeln und Lindenblüten. Beim Anblick der Letzteren stieß Celeste einen kleinen Freudenschrei aus, hielt sich eine Dolde unter die Nase und sog tief den Duft ein. Ah! Tilleul! Sie seufzte wohlig und stellte den Wasserkessel auf.
Eines Tages besuchten die beiden Mädchen die Southern Farm, und Dimity stellte Delphine schüchtern der Bauersfrau vor, Mrs. Brock, die freundlicher war als die meisten anderen Leute und ihr manchmal ein Glas Limonade oder eine Scheibe Brot gab, wenn sie nicht zu beschäftigt war. Die Brocks waren beide über fünfzig und hatten stahlgraues Haar und faltige Gesichter. Nach einem ganzen Leben in der Landwirtschaft waren ihre Hände runzlig und braun, die Nägel dick und fleckig und so hart wie Tierklauen. Sie hatten zwei erwachsene Kinder: Die Tochter hatte geheiratet und war weggezogen, und ihr Sohn Christopher arbeitete mit seinem Vater auf dem Hof. Das war der, der die Ratten mit einem Knüppel erschlug und auf Schritt und Tritt von einem Terrier begleitet wurde. Ein großer, schweig samer junger Mann mit einem rötlichen Schopf und sanften Augen. Christopher kam in die Küche, als Delphine gerade Mrs. Brock von ihrer marokkanischen Mutter und ihrem berühmten Vater erzählte. Dimity staunte über ihre mutige Offenheit, die Art, wie sie nichts von sich geheim hielt, und als sie Christopher ansah, erkannte sie auch in dessen Miene ein gedämpftes Staunen – vielleicht war es auch nur Neugier. Als hätte er ein Rätsel vor sich, das er irgendwann vielleicht lösen würde.
Wenn Dimity sich Littlecombe näherte oder dort aufhielt, fühlte sie sich oft beobachtet. Manchmal entdeckte sie eine ferne Gestalt hoch oben auf den Klippen, während sie mit Delphine am Strand war, oder einen Schatten in einem Fenster des Hauses, wenn sie im Garten spielten. Einmal stand sie mit hochgeschobenen Ärmeln und gerafftem Rock am Bach – wo sie ausnahmsweise nichts Essbares sammelte, sondern Élodie zu beschäftigen versuchte, weil Celeste Migräne hatte –, und als sie aufblickte, sah sie ihn. Er lehnte am Türrahmen, rauchte und beobachtete sie, die Augen in der Sonne halb geschlossen. So konzentriert, so versunken war er, dass er scheinbar gar nicht merkte, dass sie ihn entdeckt hatte. Dimity errötete und wandte rasch den Blick ab. Da sah sie, dass Delphine ihren Vater ebenfalls be merkt hatte. Sie neigte den Kopf zur Seite und betrachtete Dimity.
»Er will dich wieder zeichnen. Ich habe gehört, wie er das zu Mummy gesagt hat, aber sie sagt, das darf er nicht, wenn du es nicht willst, und auf keinen Fall, ohne vorher deine Mutter zu fragen. Er hat gesagt, dass du eine echte Landfrau bist. Das habe ich deutlich gehört«, raunte sie.
»Was meint er damit?«, fragte Dimity. Delphine zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht. Aber Daddy zeichnet nur schöne Dinge, also kann es nichts Schlechtes bedeuten.«
»Ich verstehe nicht, was an der so besonders sein soll«, be schwerte Élodie sich bei ihrer Schwester. »Warum will Daddy sie überhaupt zeichnen?«
»Sei nicht so gemein, Élodie. Ich finde, Mitzy ist sehr hübsch. Mummy war wütend, weil er eigentlich an einem großen Gemälde arbeiten sollte – er soll das Porträt von irgendeinem berühmten Dichter malen und muss rechtzeitig fertig sein, damit es auf den Einband seines neuen Gedicht bands gedruckt werden kann. Aber Daddy hat nicht mehr viel Zeit, und alles, was er will, ist, stattdessen dich zu zeichnen«, sagte Delphine zu Dimity. Élodie zog einen Schmollmund, und Delphine wirbelte ein Stöckchen im Was ser herum. Eine lange Pause entstand, während Dimity all das verdaute.
»Findest du mich wirklich hübsch?«, fragte sie schließlich.
»Natürlich. Dein Haar gefällt mir sehr. Es sieht aus wie eine Löwenmähne!«, erklärte Delphine, und Dimity lächelte.
»Du bist auch hübsch«, sagte sie höflich.
»Wenn ich groß bin, werde ich so schön sein wie Mummy«,
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