Das verbotene Reich: Thriller (German Edition)
unvermeidlich Macht mit Geld, ohne dass das Gesetz Missbrauch abstellen könnte. Das Fehlen klarer politischer Nachfolgeregelungen führt zu Chaos. Während das Militär immer schwächer wird, gibt es mehr und mehr Aufstände. Daraufhin isoliert sich die Regierung und wird immer schwächer. Das Ende steht zweifelsfrei fest.« Pau schwieg einen Augenblick. »So hat sich seit sechstausend Jahren das Schicksal jeder chinesischen Dynastie entwickelt. Jetzt sind die Kommunisten an der Reihe.«
Dieser Schlussfolgerung konnte Ni nicht widersprechen. Er erinnerte sich an eine Reise in den Süden, die er vor einigen Monaten im Verlauf einer anderen Ermittlung gemacht hatte. Ein dortiger Behördenvertreter, ein alter Freund, hatte ihn am Flughafen abgeholt. Auf der Fahrt zum Hotel waren sie an Reklametafeln vorbeigekommen, auf denen für neue Wohnungen mit Schwimmbecken, Garten und moderner Küche geworben wurde.
»Die Leute haben all die Kulturrevolutionen und Kriege satt«, hatte sein Freund gesagt. »Sie mögen materielle Güter.«
»Und du?«, hatte Ni gefragt.
»Ich auch. Ich möchte ein behagliches Leben führen.«
Diese Bemerkung hatte Ni sich eingeprägt. Sie sprach Bände über Chinas gegenwärtige Verfassung. Die Regierung kleisterte die Probleme nur zu und wurstelte sich durch. Mao hatte Stolz auf die eigene Armut gepredigt. Das Schlimme war, dass keiner mehr daran glaubte.
Pau bückte sich und zeichnete zwei Schriftzeichen in den Sand:
Ni wusste, was sie bedeuteten. »Revolution.«
Pau stand auf. »Präziser ausgedrückt: ›Entzug des Mandats‹. Jede chinesische Dynastie hat ihren Aufstieg mit diesen Worten begründet. Als 1912 die Qing-Dynastie stürzte und der letzte Kaiser mit Gewalt abgesetzt wurde, haben wir das historische Ereignis mit diesem Namen bezeichnet. 1949 hat Mao Chiang Kai-sheks Mandat geraubt, eine Republik der Nachkaiserära aufzubauen. Nun ist die Zeit für einen neuen Entzug des Mandats gekommen. Die Frage lautet nur, wer dieses Unternehmen anführen soll.«
Ni starrte den älteren Mann an, und lauter Verdächtigungen wirbelten ihm durch den Kopf. Der Ermittler in ihm hatte sich zurückgezogen. Jetzt dachte er wie der Politiker – der politische Führer –, der er sein wollte.
»Der Kommunismus hat seine historische Rolle überlebt«, sagte Pau. »Er kann sich nicht mehr auf unkontrolliertes Wirtschaftswachstum und nackten Nationalismus stützen. Es gibt schlicht und ergreifend nichts mehr, was die gegenwärtige chinesische Regierungsform mit dem Volk verbindet. Das Ende der Sowjets hat die Untauglichkeit des Kommunismus zweifelsfrei bewiesen. Jetzt geschieht es erneut. Die Arbeitslosigkeit in China ist außer Kontrolle geraten. Hunderte Millionen Menschen sind betroffen. Die herablassende Art Pekings entspricht dem Fehler, den Moskau vor Jahrzehnten begangen hat, und ist unentschuldbar. Herr Minister, Ihnen muss bewusst sein, dass derselbe Nationalismus, der die Partei heute in Sicherheit wiegt, China morgen in den Faschismus katapultieren könnte.«
»Warum glauben Sie eigentlich, dass ich um die Macht kämpfe?«, spie Ni hervor. »Denken Sie etwa, dass ich das will? Denken Sie, dass die Leute, die mich unterstützen, das wollen?«
»Aber Sie sind auf ein Problem gestoßen, oder etwa nicht?«
Woher wusste dieser Weise, dem er heute zum ersten Mal begegnete, über alles Bescheid, was ihm Sorgen bereitete?
»Der Zusammenbruch in Moskau macht Ihnen Angst«, meinte Pau. »Wie könnte es anders sein? Aber wir Chinesen sind anders. Wir können Widersprüchlichkeiten besser in unser Leben integrieren. Unsere Herrscher haben sich über lange Zeitspannen hinweg Konfuzianer genannt, aber als Legalisten regiert. Keiner hat diesen Widerspruch je angeprangert. Und im Gegensatz zu den Russen haben die meisten Chinesen das Lebensnotwendige oder können darüber hinaus ihr Zuhause sogar noch mit einigen technischen Spielereien ausstatten. Unsere Partei ist nicht unwissend. Trotz all unserer Fehler werden wir keinen politischen Selbstmord begehen. Ihr Dilemma, Herr Minister, ist also klar. Wie sollen Sie anderthalb Milliarden Menschen davon überzeugen, sich vom Bestehenden abzuwenden und Ihnen ins Unbekannte zu folgen?«
Ni erwartete die Antwort auf diese Frage.
»Der Stolz, Herr Minister. Etwas ganz Einfaches. Aber der Appell an den Stolz könnte durchaus die Lösung sein, die Sie suchen.«
13
Kopenhagen
Malone saß vor einem geöffneten Fenster im ersten Stock an einem Tisch im
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