Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall
den Mann nicht gesehen?«
Sie wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab.
»Ich hab Schritte gehört. Als ich im Erdgeschoss war, ist draußen ein Auto losgefahren.«
»Hat Meyer den Mann gesehen?«
»Das weiß ich nicht. Woher auch? Vielleicht.«
»Aber Sie sind sich sicher, dass es Frevert war?«
Sie kniff die Augen zusammen. Versuchte, die Tränen wegzudrücken.
»Ich hab ihn nicht gesehen, Bülow. Aber wer soll’s denn sonst gewesen sein?«
»Kommen Sie mir hier nicht dumm. Wenn Sie niemanden gesehen haben, wissen Sie auch nicht, ob Meyer Ihre Pistole genommen hat oder der Mann, der auf ihn geschossen hat.«
Lund sah ihn an. Das alles ließ Bülow völlig kalt. Er betrachtete sie, betrachtete Meyer aus der Distanz. So wie es sein sollte. Wie auch sie Nanna Birk Larsen hätte sehen müssen. Nur konnte sie es eben nicht.
»Fragen Sie doch Leon Frevert! Ich möchte jetzt gehen.«
Brix stand draußen vor der Glasscheibe, telefonierte und machte den beiden von der Staatsanwaltschaft ein Zeichen. Bülow ging hinaus und sprach mit ihm. Der Große schaute zur Tür, nutzte die Gelegenheit.
»Ich weiß, dass es schwer für Sie ist, darüber zu reden. Aber wir müssen unsere Arbeit machen. Sie verstehen das sicher.«
»Für mich war’s das jetzt hier. Sie wissen, wo Sie mich finden.«
Sie stand auf, nahm ihre Tasche, musste wieder weinen. Bülow kam durch die Tür.
»Bleiben Sie bei Ihrer Aussage, Lund?«
»Was soll das denn? Natürlich bleibe ich dabei. Ich hab Ihnen die Wahrheit gesagt.«
»Gut. Nehmen Sie Ihren Mantel. Wir fahren ein Stück.«
Sie fuhren zu dem Pier zurück. Schwarzer Regen in trostlosen böigen Schauern. Doppelt so viele Polizeiautos wie zuvor. Scheinwerfer. Absperrbänder. Spurensicherer. Das Fallreep hinauf. Das Schiff war alt, kaum noch seetüchtig. Über das hölzerne Deck. Es roch nach verschüttetem Treibstoff und frischer Farbe.
»Die Küstenwache beobachtet den Pott seit anderthalb Jahren«, sagte Bülow, als sie unter Deck gingen. »Drogenschmuggel. Die Besatzung hat sich irgendwohin verkrümelt. Wir fahnden nach den Leuten.«
»Und Ihre Kontaktleute hier?«
»Alles zu seiner Zeit.«
Er öffnete eine schwere Eisentür und lächelte Lund zu. Sie begriff nicht, warum er plötzlich so freundlich zu ihr war.
»Es sieht so aus, als hätten Sie mit Leon Frevert recht gehabt.«
In einem Raum mit großen Tischen beugten sich Offiziere über Seekarten.
»Die wollten morgen nach Sankt Petersburg auslaufen. Die Besatzung ist an Land gegangen, um sich aus diesem Anlass noch mal richtig volllaufen zu lassen. Diese Leute …«
»Ja?«
Sie stiegen noch eine Treppe hinunter und gingen durch eine offene Tür. Ein alter Computer. Ein Feuerlöscher aus der Steinzeit. Schilder auf Russisch. Aufflammende Blitzlichter. Sie waren zwei Ebenen unter dem Hauptdeck, unter einer Luke, durch die man in den schwarzen Himmel hinaufsah. Und in der Öffnung baumelte etwas. Die Füße nach unten, pendelte der Leichnam mit den Bewegungen des Schiffes sachte hin und her.
Lund ging herum, dachte nach, schaute. Grauer Anzug, graues Gesicht. Leon Frevert sah tot auch nicht viel anders aus, trotz der Schlinge um seinen mageren Hals. Der Strick kam aus dem darüber liegenden Deck. Hellblau. Nautisch. Zwei Offiziere versuchten, den Leichnam zur Bergung zur Seite zu ziehen.
»Vielleicht dachte er, die Besatzung würde nicht kommen«, sagte Bülow. »Zu viele Dinge, denen er sich nicht stellen wollte.«
Er hatte ein Stück Papier in einem Beweisbeutel.
»Mehr als das werden wir wohl als Geständnis nicht bekommen.«
Sie nahm es in die Hand. Nur ein Wort, in kindlicher Blockschrift.
UNDSKYLD.
»Entschuldigung«, sagte Lund.
Sie sah Bülow an.
»Entschuldigung. Ist das alles?«
»Was wollen Sie noch? Kapitel und Vers?«
»Jedenfalls mehr als das …«
»In der Tasche hatte er noch eine Quittung.«
Noch ein Plastikbeutel.
»Leon Frevert hat etwa dreißig Kilometer von dem Lagerhaus, in dem Meyer niedergeschossen wurde, seinen Wagen vollgetankt. Zwölf Minuten bevor Sie den Notarzt gerufen haben.«
Sie sah sich die Quittung an.
»So schnell fährt keiner, Lund.«
»Die Quittung könnte falsch sein.«
»Wir haben ihn dort auf Video. Mit dem Auto.« Zu viele Gedanken, zu viele Möglichkeiten, die ihr durch den Kopf gingen.
»Aber das ist unmöglich.«
Sie schaute zu der Leiche hinauf. Die Männer hatten Frevert am Jackett gepackt und zogen ihn zur Seite.
»Ich frage Sie zum letzten Mal«,
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