Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall
oder ein Freund?«, fragte sie, als er sagte, dass er Poul Bremer besuchen wolle.
»Weder noch.«
»Tja, dann tut’s mir leid.«
»Sagen Sie ihm, dass Hartmann da ist. Er wollte mich sehen.«
»Er braucht Ruhe.«
Hartmann lehnte sich an den Tresen und wartete. Sie ging zehn, zwölf Türen den Gang hinunter. Nicht lange danach kamen vier Personen heraus. Hartmann erkannte Bremers Frau und seine Schwester. Beide weinten. Sie gingen an ihm vorbei Richtung Warteraum. Die Schwester kam zurück.
»Er soll sich nicht aufregen. Wenn ihm übel wird oder wenn er erregt wirkt, rufen Sie uns bitte sofort. Neben dem Bett ist ein Alarmknopf. Wir haben ihn eben erst in dieses Zimmer verlegt, deshalb arbeiten noch nicht alle Geräte.«
»Sicher«, sagte Hartmann. »Wie geht’s ihm?«
Sie würdigte ihn keiner Antwort, führte ihn aber in das Zimmer. Nur eine Lampe über dem Bett. Bremer in einem weißen Kittel, auf einem weißen Laken. Infusionsschlauch in der Nase. Keine Brille. Unrasiert. Er wirkte jünger so. Als hätte der kleine, einsame Raum die Sorgen der Außenwelt von ihm genommen, Bürden, die Poul Bremer in jedem Augenblick seiner Arbeitstage getragen hatte. Der Oberbürgermeister von Kopenhagen schaute zu ihm auf, blinzelte und lachte.
»Ich hätte dich am Dienstag spielend geschlagen, Troels«, sagte er mit matter Stimme. »Das weißt du doch?«
Hartmann stand neben dem Infusionsständer, die Hände in den Hosentaschen.
»Vielleicht schaffst du’s ja trotzdem noch.«
»Tja, wenn …«
»Vielleicht sprichst du besser mit den Ärzten, Poul. Und mit deiner Familie. Nicht mit mir.«
»Du bist mein Vermächtnis«, sagte Bremer mit einem schwachen Versuch, die Stirn zu runzeln. »Also kannst du mir verdammt nochmal auch zuhören.«
An dem Vorhang stand ein Hocker. Hartmann zog ihn neben das Bett und setzte sich.
»Ach, bitte, Troels. Schau nicht so mitleidig. Das dreht mir den Magen um.« Wieder das matte Lachen. »Wenn ich du wäre, vor dreißig Jahren, würde ich mich jetzt auf den Infusionsschlauch stellen. Mich zur Hölle schicken und die Siegesprämie einstreichen.«
»Ich glaub dir kein Wort«, sagte Hartmann und merkte zu seiner Verwunderung, dass er lächelte.
»Nein«, stimmte Bremer ihm zu. »Ich hab damals gern geprahlt. Gedroht. Mehr war da nicht. Ich war ganz ähnlich wie du. Hab immer gesagt, was ich gedacht habe. Dann kriegt man das, wovon man geträumt hat. Und es ist …«
Ein Ausdruck von Abscheu trat auf sein Gesicht.
»… nichts als Scheiße. Man kann überhaupt nichts ändern. Man kann schon froh sein, wenn man den Karren am Laufen hält.«
»Du sollst dich ausruhen.«
»Ruhen?« Die Stimme wurde etwas lauter. »Ruhen? Wie kann man denn ruhen? Wie kann man irgendwas tun … irgendwas ändern, wenn man keine Kraft hat?«
»Poul …«
Die Augen des alten Mannes waren glasig und blickten ins Leere. Er atmete flach und stoßweise. Keuchend. Bremers Hand kam unter der Bettdecke hervor und packte Hartmann am Arm. Es war der schwache, zittrige Griff eines gebrechlichen Mannes. Der Monitor neben dem Bett piepte und blinkte.
»Du denkst, du bist anders«, ächzte der alte Mann. »Vielleicht bist du das ja auch. Alles ist anders heutzutage. Es gibt so viel, was ich nicht mehr verstehe.«
Er hustete, verzog vor Schmerz das Gesicht.
»Poul? Was wolltest du mir sagen?«
Bremers Augen bewegten sich unkontrolliert, versuchten zu fokussieren.
»Ich weiß, wer dich geschützt hat.«
Die Schwester kam eilends herein, schaute auf den Monitor, sagte: »Ich muss Sie jetzt bitten, das Zimmer zu verlassen.«
Hartmann erhob sich. Bremer ließ ihn nicht los.
»Ich dachte, es war Rie, aber da hab ich mich geirrt.«
Der alte Mann schluckte schwer. Hatte wieder Schmerzen. Die Schwester fühlte seine Stirn, blickte wieder auf den Monitor.
»Ich hab jemanden in dein Büro geschickt. Es liegt bei dir …«
Die Frau rief nach einem Arzt. Man hörte Schritte draußen auf dem Gang.
»Sie müssen jetzt gehen«, sagte die Schwester bestimmt und zeigte zur Tür.
Bremer hielt ihn noch immer fest, hatte immer noch den leeren Basiliskenblick, die Augen von der Farbe des tristen Marmors im Innern des Polizeipräsidiums.
»Tu das Richtige, Troels. Du musst damit leben. Niemand sonst.«
Tränen und plötzlich der Ausdruck panischer Angst.
»Du denkst, du bist der Kapitän dieses Schiffs«, flüsterte Poul Bremer. »Aber in Wirklichkeit … beherrscht es uns alle.«
Die Stimme hoch, zittrig, schwach. Die
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