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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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ersten Dolchstoß, der sie tötete, und den anderen ist zwar nicht soviel Zeit vergangen, wie Sie meinen, doch ich bin überzeugt, daß Madame de Trémorel bereits seit drei Stunden tot gewesen sein muß, als man sie erneut mißhandelte.«
    Monsieur Gendron hatte sich dem Billardtisch genähert und langsam das Tuch angehoben, so daß man Kopf und einen Teil des Oberkörpers der Leiche erkennen konnte.
    Â»Leuchten Sie uns, Plantat«, sagte er.
    Der Friedensrichter nahm die Lampe in die Hand und ging auf die andere Seite des Tisches. Seine Hand zitterte so stark, daß Glocke und Glas klirrten. Der tanzende Lichtschein warf bizarre Schatten an die Wand.
    Das Gesicht der Comtesse war sorgfältig gewaschen und von Blut und Schlamm gereinigt worden, so daß man die Verletzungen deutlich sehen konnte. Und man sah diesem zerfließenden Gesicht auch an, daß es zu Lebzeiten schön gewesen war. Monsieur Lecoq stand am Kopfende des Billardtisches. Er beugte sich nach vorn, um besser sehen zu können.
    Â»Madame de Trémorel«, sagte Doktor Gendron sachlich, »hat achtzehn Dolchstiche erhalten. Von all diesen Verletzungen war jedoch nur eine tödlich, und zwar diese hier, deren Stichkanal fast vertikal ist, da, unterhalb des Schulterblatts.«
    Dabei hob er mit dem linken Arm den Leichnam an und zeigte ihnen die klaffende Wunde. Die Augen der Comtesse hatten einen flehenden Ausdruck bewahrt. Ihr Mund schien noch immer zu rufen: Steht mir bei! Helft mir!
    Vater Plantat, der Mann mit dem Herz aus Stein, wandte den Kopf ab, und Doktor Gendron, der seiner ersten Gefühlsregung bereits Herr geworden war, fuhr ruhig fort: »Die Messerklinge muß drei Zentimeter breit und mindestens fünfundzwanzig Zentimeter lang gewesen sein. Alle anderen Verletzungen, ob an den Armen, der Brust oder an der Schulter, sind relativ leicht. Sie wurden dem Opfer mindestens zwei Stunden nach dem tödlichen Stich beigebracht.«
    Â»Sehr gut«, meinte Monsieur Lecoq.
    Â»Bedenken Sie«, erwiderte der Doktor lebhaft, »daß ich nichts weiter als eine Vermutung äußere. Die äußeren Anzeichen sind insgesamt viel zu ungefähr, als daß ich mehr als eine persönliche Meinung haben dürfte.«
    Diese Darstellung des Doktors schien Monsieur Lecoq entschieden zu mißfallen.
    Â»Aber«, erwiderte er, »zum Zeitpunkt des...«
    Â»Was ich mit absoluter Gewißheit vor einem ordentlichen Gericht unter Eid erklären kann«, fiel ihm Doktor Gendron ins Wort, »ist, daß sämtliche Wunden und Quetschungen am Kopf, außer einer, dem Opfer nach dem Tod beigebracht wurden. Hierüber ist keinerlei Zweifel möglich. Nur dieser Schlag über dem Auge, sehen Sie, wurde Madame beigebracht, als sie noch lebte. Wie Sie selbst sehen können, ist der Blutandrang in den Kapillargefäßen beträchtlich, die Geschwulst ist auffallend, sehr schwarz im Zentrum und an den Rändern bleifarben. Die anderen Verletzungen sehen völlig anders aus, selbst hier, wo der Schlag so kräftig war, daß er das Schläfenbein durchschlagen hat, gibt es keinerlei Anzeichen für einen Bluterguß.«
    Â»Mir scheint, Herr Doktor«, beharrte Monsieur Lecoq, »daß man aus dieser bewiesenen Tatsache, daß die Comtesse nach ihrem Tod mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf geschlagen wurde, gleichsam schlußfolgern kann, daß ihr die Stichverletzungen ebenfalls erst nach dem Ableben beigebracht wurden.«
    Monsieur Gendron dachte einen Augenblick nach.
    Â»Kann sein, Herr Polizeiagent«, sagte er schließlich, »daß Sie recht haben. Ich zweifle übrigens nicht daran. Dennoch sind die Schlüsse, die ich aus meinem Bericht ziehe, nicht die Ihren. Die Gerichtsmedizin stützt sich auf beweisbare, nachprüfbare und unumstößliche Fakten. Beim leisesten Zweifel muß sie verstummen. Und eine Ungewißheit sollte dem Angeklagten und nicht der Anklage nützen.«
    Das war natürlich ganz und gar nicht nach dem Geschmack des Vertreters der Polizei, aber er hütete sich, das etwa zu äußern. Er war im Gegenteil Doktor Gendrons Darlegungen aufmerksam gefolgt, und sein verkniffenes Gesicht ließ ahnen, was er dachte.
    Â»Immerhin scheint mir jetzt möglich«, sagte er, »den Tathergang exakt zu rekonstruieren.«
    Der Doktor hatte die Leiche wieder zugedeckt. Vater Plantat stellte die Lampe an ihren Platz

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