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Das Verbrechen von Orcival

Das Verbrechen von Orcival

Titel: Das Verbrechen von Orcival Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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Waffe wieder in seine Tasche.
    Dann ging er hinaus, ohne sich um seine auf dem Boden liegende Geliebte zu kümmern, und schloß die Tür zweimal ab. Den Domestiken gab er zehn Louis, dann entfernte er sich rasch.
    * * *
    H ector überquerte das Pflaster, schwenkte in die Rue Duphot ein und erreichte den Seinekai. Wohin ging er? Er wußte es nicht, er fragte es sich nicht einmal. Ich muß Paris verlassen, sagte er sich. Schnell strebte er dem Orleaner Bahnhof zu, der auf der anderen Seite der Seine ihm genau gegenüber lag. In der Schalterhalle angekommen, fragte er, wann ein Zug nach Etampes ginge. Warum wählte er ausgerechnet Etampes?
    Man sagte ihm, daß gerade vor fünf Minuten ein Zug abgefahren sei und der nächste erst in zwei Stunden ginge. Er fand das ärgerlich; da er aber nicht zwei Stunden auf dem Bahnhof warten wollte, ging er, um die Zeit totzuschlagen, in den Botanischen Garten.
    Dorthin hatte er mindestens seit zehn oder zwölf Jahren keinen Fuß mehr gesetzt, seit seiner Schulzeit, da man die Schüler an Wandertagen hierher führte. Nichts hatte sich seitdem verändert. Das waren noch dieselben Kastanienbäume, dieselben rostigen Gitter, dieselben kleinen Wege, die sich schnurgerade zwischen den einzelnen Pflanzen hindurchzogen. Die Hauptwege waren fast menschenleer. Er setzte sich auf eine Bank, die gegenüber dem Mineralogischen Museum stand.
    Zwischen heute und damals – was für ein Unterschied! Auch das Leben kam ihm wie eine lange, schnurgerade Allee vor, so lang, daß man das Ende nicht erkennen konnte und auf der jeder Schritt eine neue Überraschung, einen neuen Genuß bereithielt. Nun ja, er hatte diese Allee durchschritten und war an ihrem Ende angekommen. Und was hatte er gefunden? Nichts.
    Gewiß, nichts. Denn jetzt, da er die verflossenen Jahre noch einmal Revue passieren ließ, fand er unter den so zahlreich genossenen Tagen nicht einen, der ihm als entzückend oder wesentlich in Erinnerung geblieben war. Millionen hatte er verschwenderisch unter die Leute gestreut, aber er erinnerte sich keiner nützlichen, ja von Herzen kommenden Ausgabe von nur zwanzig Francs. Er, der soviel Freunde hatte, soviel Freundinnen, versuchte sich vergeblich des Namens eines Freundes, einer geliebten Frau zu erinnern.
    Die Vergangenheit erschien ihm wie in einem getreuen Spiegel: er war überrascht, ja erschrocken über die Einfalt seiner Zerstreuungen, die Nichtigkeit seiner Genüsse, die Ziel und Zweck seines Lebens gewesen waren. Wofür hatte er denn in Wirklichkeit gelebt? Für die anderen. Er hatte geglaubt, ein Held auf der Bühne des Lebens gewesen zu sein, er war in dem Stück nichts weiter als der dumme August gewesen.
    Â»Ach, was war ich für ein Narr«, seufzte er.
    Aber nicht genug damit, daß er nur für andere gelebt hatte, er wollte sich für die anderen umbringen.
    Er war niedergeschlagen. Wer würde in acht Tagen noch an ihn denken? Niemand. Ah, doch, Miß Fancy vielleicht, ein gefallenes Mädchen! Sonst niemand. Nach acht Tagen wäre sie getröstet und würde in den Armen eines neuen Liebhahers über ihn lachen. Dabei hatte er sich so um Fancy gekümmert, wirklich...
    Der Abend brach allmählich herein. Ein dichter, feuchter Nebel machte sich breit. Der Comte de Trémorel erhob sich von seiner Bank, er war durchgefroren.
    Â»Gehen wir zur Eisenbahn zurück«, murmelte er.
    Nun, und in diesem Augenblick hatte er vor dem Gedanken Angst, sich in irgendeinem Waldeckchen eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Er stellte sich seinen Leichnam vor, der entstellt und blutverschmiert im Dreck lag. Was würde man wohl mit so einem Leichnam machen? Strauchdiebe würden ihn plündern. Und dann? Dann würde die Polizei kommen und den unbekannten Körper ins Leichenschauhaus bringen, bis man die Identität festgestellt hätte.
    Er schauderte zusammen. Er sah vor sich, wie er auf einem dieser breiten Marmortische, der ständig mit Eiswasser besprüht wurde, dalag; er hörte das Wispern der neugierigen Menge an diesem finsteren Ort.
    Also – wie sterben? Er überlegte und kam auf den Gedanken, sich in irgendeinem Hotel, das auf dem linken Seineufer lag, umzubringen. Und indem er mit den letzten Besuchern den Botanischen Garten verließ, schwenkte er zum Quartier Latin ein.
    Seine Unbekümmertheit vom Morgen hatte einer wattigen Dumpfheit Platz gemacht. Er litt, er hatte

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