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Das Verheissene Land

Titel: Das Verheissene Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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ihnen. Nangor ließ sich neben sie fallen, wischte sich über den Bart und rülpste. »Riesenbeeren«, sagte er. »Die habe ich schon mal in West-Tuur gesehen. Wo habt ihr sie gefunden?«
    Dielan zeigte in den Wald. Nangor nahm Bran das Fruchtstück aus der Hand, brach es in zwei kleinere Stücke und steckte sie sich nacheinander in den Mund, ehe er aufstand und auf den Waldrand zuging.
    Die Männer und Frauen folgten Dielan zwischen die dicken Stämme. Der Boden war mit Moos und Farn bedeckt und die unteren Äste der Bäume waren von Bartflechten überzogen. So hatte es an der Talseite der Felsenburg auch ausgesehen. Aber ansonsten erinnerte hier nur wenig an die Berglandschaft, die sie an jenem Frühlingstag vor drei Jahren verlassen hatten. Die Bäume waren genauso knorrig wie die Felsen entlang der Küste. Der Waldboden war von abgebrochenen Ästen und umgestürzten Stämmen bedeckt. Dazwischen standen vereinzelt verwitterte Apfelbäume mit verfaultem Kern, deren Rinde wie eine leere Hülle zurückgeblieben war. Die Männer des Felsenvolkes waren geborene Jäger, aber hier war weder Vogelgezwitscher noch das Bellen eines Hirsches zu hören.
    Wenige Steinwürfe vom Waldrand entfernt führte Dielan sie auf eine Lichtung und breitete stolz die Arme aus. Hier hatte er die Riesenbeere entdeckt. Es wuchsen noch mehrere davon auf dem Boden. Zwischen Farnbüscheln und vermoderten Ästen schlängelte sich ein Netz aus Stängeln, an denen die tonnenähnlichen Früchte wuchsen.
    Nach kurzer Beratschlagung einigte sich das Felsenvolk darauf, dass nur zwei Männer die Lichtung betreten sollten. Die seltsamen Pflanzen waren ihnen nicht geheuer. Also stapften Dielan und Bran, jeder mit einer Axt bewaffnet, zwischen den Stängeln hin und her, während die anderen mit gespannten Bögen den Rand der Lichtung bewachten. Der erste Schlag brachte die Stängel zum Zittern, und Turvi rief die beiden zurück.
    Sie warteten eine Weile im Schutz der Bäume ab, aber bald schon trieb der Durst sie wieder aus ihren Verstecken. Bran hackte die erste Riesenbeere ab und rollte sie zu Hagdar, der sie über dem Knie zerbrach und mit vollen Händen das triefende Fruchtfleisch verteilte. Das ermutigte die anderen, und kurz darauf liefen Männer und Frauen zwischen den Stängeln herum und hackten die Riesenbeeren los.
    Als ungefähr die Hälfte abgeerntet war, hob Turvi die Hand und rief sie zurück. Sie ließen die restlichen Früchte liegen und die Männer luden sich die Riesenbeeren auf die Schultern. Sie würden ihren Hunger und Durst stillen und schmeckten allemal besser als der salzige Trockenfisch.
    Als sie nur noch wenige Speerwürfe vom Waldrand entfernt waren, zerriss ein lautes Brüllen die Stille. Es klang wie das Bellen eines Hirsches, aber gleich darauf ging der gellende Laut in dämonisches Gelächter über. Die Männer und Frauen liefen an den Strand; nur Storni und Zwei Messer drehten sich um und zogen ihre Schwerter. Da ertönte das Brüllen erneut, diesmal weiter südlich. Wie zwei Wesen, die miteinander sprachen. Danach war es wieder still.
    Das Felsenvolk zog sich auf die Schiffe zurück. Sie teilten die Beeren unter sich auf und kratzten das Fruchtfleisch aus den harten grünen Schalen. Die Früchte waren unglaublich saftig und honigsüß. Nangor erzählte, dass die Tuurer sie in der Sonne gären ließen. Nach einer Mondphase wurde aus dem roten Fruchtfleisch eine breiige Masse, die die Tuurer mit Wasser mischten und als Wein tranken, der ordentlich berauschend war, wie sich der Seeräuber erinnerte.
    Den Rest des Tages verbrachten sie an Deck der Schiffe. Das Brüllen war nicht mehr zu hören. Aber als die rote Abendsonne im Westen hinter dem Horizont versank, stellten sich die Männer mit Pfeil und Bogen an der Reling auf. Es gab viele Geschichten über Wälder wie diesen, und Turvi kannte die meisten davon. Der Einbeinige zündete eine Fackel an und scharte die Kinder um sich. Und zum Entsetzen der Mütter begann er zu erzählen. Er leuchtete mit der Fackel in die Kindergesichter und erzählte flüsternd von den Schrecken des Westwaldes, von Erdriesen, die nach Menschenblut trachteten, und Waldteufeln, die auf der Jagd nach ihren verlorenen Körpern über die Baumkronen flogen. »Waldteufel sind unsichtbar wie der Wind«, sagte der Einbeinige mit einem Blick auf die Umhänge der Männer an der Reling, die sich in der Abendbrise bauschten. »Man erkennt sie nur an dem dämonischen Lachen, das die Baumkronen erbeben lässt.«

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