Das verletzte Gesicht
…“
„Nein, es ist so. Sie haben mich nie in meiner Wohnung besucht. Nicht ein einziges Mal.“ Er zündete die Zigarette mit eckigen zornigen Bewegungen an, sog den Rauch tief ein und atmete langsam aus. „Es ist eine schöne Wohnung, mit hübschen Fenstern“, fügte er traurig hinzu.
Michael merkte, dass Bobby mühsam die Tränen zurückhielt, um es ihnen beiden nicht zu schwer zu machen.
Schweigend hielten sie vor der Gärtnerei an. Michael fühlte sich, als hätte er Bobby im Stich gelassen. Er hätte hier sein und ihn beschützen müssen, wie er es immer getan hatte. Beschämt stellte er sich vor, was Bobby in den letzten Jahren alles erlebt hatte: Diskriminierung, Spott und Schlimmeres. Oft genug wurden Schwule zusammengeschlagen.
Voller Mitgefühl und Zuneigung sah er Bobby durch die Windschutzscheibe starren, das Gesicht zur Maske versteinert. Er nahm sich vor, ihn in seiner Wohnung zu besuchen, seine Freunde kennen zu lernen und sich die schönen Fenster anzusehen.
Bobby drehte sich zu ihm um und schien seine Gedanken zu erraten. Ein schwaches Lächeln hellte seine Miene auf. In der von ihrem Vater bevorzugten Geste legte er Michael einen Arm um die Schultern.
Michael zuckte zurück. Es geschah im Bruchteil einer Sekunde, ein reiner Reflex, eine unwillkürliche Bewegung. Ein Zucken nur, doch beide hatten es bemerkt. Bobby zog sich zurück, das Gesicht aschfahl, als wäre er geohrfeigt worden.
Entsetzt wollte Michael die Geste ungeschehen machen. Er hatte das nicht gewollt. „Bobby …“, begann er und streckte eine Hand nach ihm aus.
Bobby öffnete die Tür und stieg aus, sodass die Hand nur seine Schulter berührte, und er schüttelte sie ab. „Tut mir Leid, wenn ich dich ekele.“
Michael rieb sich die Stirn und verfluchte seine Dummheit. „Bobby!“ rief er, sprang aus dem Wagen und schlug die Tür zu.
„Lass mich in Ruhe!“ fauchte der und winkte ab.
„Verdammt, warte!“ Michael folgte ihm auf den Fersen. Da Bobby nicht stehen blieb, packte Michael ihn am Arm und zog ihn zu sich herum. Bobby presste die Kiefer zusammen, seine Augen funkelten feindselig.
„Was zum Teufel hast du erwartet!“ fuhr Michael ihn an. „Du lädst das bei mir ab und erwartest, dass ich lächelnd sage: ‚Schön für dich, gehen wir ein Bier trinken‘?“
„Ja, genau!“
„Scheißdreck! Du wusstest, dass es anders kommen würde!“
„Ja, leider Gottes. Aber ich hoffnungsloser Optimist habe gedacht, du hättest Verständnis. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du so eine Scheißangst vor Homos hast!“
Michael blickte beschämt auf seine Schuhspitzen. Aufblickend merkte er, dass Bobby mehr gekränkt als zornig war. „Ich habe keine Angst“, beteuerte er ruhig. „Das hoffe ich wenigstens. Ich bin nur jemand, der vom Geständnis meines Bruders überrumpelt wurde.“
Bobby schien darauf etwas erwidern zu wollen, schüttelte aber nur langsam den Kopf. „Und ich bin nur jemand, der zufälligerweise schwul ist. Wie du damit umgehst, ist dein Problem, lieber Bruder, nicht meines.“ Damit ließ er ihn stehen, ging den Kiesweg entlang und verschwand in der Dunkelheit.
9. KAPITEL
A ls Charlotte zwei Tage später erwachte, sah sie Michael Mondragon vor ihrem Schlafzimmerfenster die Breite des Grundstücks abschreiten. Sie hatte gerade zwischen den Vorhängen ins Wetter schauen wollen, wich zurück und schob die Gardine wieder vor. Zwar sagte sie sich, dass es völlig gleichgültig war, was sie anzog, trotzdem suchte sie ein schickes mintgrünes Etuikleid heraus, zog Sandalen an und ging hinaus, ihn zu begrüßen.
Michael lächelte, als er sie sah, und fand den Tag noch sonniger. Sie war ein toller Anblick mit dem langen blonden Haar und den langen schlanken Beinen, die unter dem kurzen Sommerkleid hervorsahen. Mit geschmeidigen Schritten kam sie offenbar erfreut auf ihn zu.
„Hallo“, grüßte sie und strich sich das wehende Haar zurück. „Sind Sie etwa schon mit den Entwürfen fertig?“
Bei einer anderen Frau hätte das vielleicht kokett geklungen, bei Charlotte nicht.
„Doch, bin ich. Da Sie bald abreisen, wollte ich mich beeilen. Ich hätte anrufen sollen, aber da ich die halbe Nacht an den Plänen gearbeitet habe, bin ich gleich im Morgengrauen los. Ich habe nicht erwartet, Sie schon so früh auf den Beinen zu finden.“
„Ich bin auch gerade erst wach geworden.“
Er hielt die Hände hinter den Rücken, und seine jungenhafte Begeisterung wirkte ansteckend.
„Also, dann zeigen Sie
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