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Das verlorene Kind

Titel: Das verlorene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rahel Sanzara
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seine Schultern hing eine
Last der feuchten Weidenruten. Er ging zur Scheune Numero vier, die dem
Wohnhause am nächsten lag. Vom Wohnhaus her sah er die kleine Anna
kommen. In der Sonne glänzten die Farben des neuen Kleidchens, die
Schwärze der Schuhe. Die flaumigen, lichten Locken des kleinen Hauptes
schwebten beim Laufen wie Federn in der Luft. Sie kam auf ihn zu, hob
das Körbchen an ihrem Arm und sagte: »Ich gehe die Enten füttern«, und
sah ihn an. Sein Atem ging keuchend unter seiner Last, die über seinen
gekrümmten Rücken hing. Sein Durst war noch immer ungelöscht,
ausgedörrt sein Mund. Bei jedem Schritt peitschten die nassen Enden der
Weidenruten an seine Beine. Er fühlte keinen Schmerz, doch Wut zitterte
in ihm. Er ächzte leise. Er antwortete dem Kind nicht und ging weiter
der Scheune zu. Das Kind lief allein zum Teich.
    Fritz ging zur Scheune und ließ seine Last an der dem Felde zu
liegenden Seitenwand niederfallen, dicht unter der Stelle, an der das
Dach ausgebessert wurde. Eine Leiter war da angelehnt. Unsichtbar und
geräuschlos arbeitete oben der alte Dachdecker. Er hockte verborgen
zwischen den Weidenbündeln, die er um sich aufstellte, verflocht und
mit Moos umwand, auf den Balken des Gerüstes. Er arbeitete trotz Alters
und der Hitze eifrig, sah nicht viel um sich, da er durch eine fast
völlige Taubheit ziemlich anteilnahmslos war. Nur von Zeit zu Zeit
reckte er seinen alten Kopf zwischen den Weiden vor, um auf den Hof zu
sehen, ob das Vieh zum Melken schon eingetrieben war. Denn das war für
ihn das Zeichen zur Vesper, deren Läuten er nicht vernehmen konnte.
Jetzt stieg Fritz die Leiter zu ihm empor und stieß ihn an. Der Alte
blickte auf, besah die herbeigetragenen Bündel der Ruten, die Fritz für
ihn aufgeschichtet hatte, nickte und sagte kurz: »Noch zwei«, und
wandte sich der Arbeit wieder zu.
    Fritz kehrte zurück. Als er an der weitgeöffneten Türe der Scheune
vorüberkam, zögerte er. Es lockte ihn, in den weiten, verlassenen,
dämmernden Raum einzutreten, im tiefsten Hintergrund seines Dunkels
sich zu verbergen vor dem Glanz der Sonne, vor der aufrührerischen
Freude dieses prangenden Sommertags. Er trat über die Schwelle, an der
messerscharf flutendes, lebendurchbebtes Licht sich von dem reglosen,
toten Dunkel schied, das eingegrenzt in den fensterlosen Raum der
Scheune mitten zwischen Erde und Himmel stand, wie finstere Nacht im
hellen Tag. Er ging über den weichen Boden der Scheune, der fußhoch mit
Stroh bedeckt war. Unhörbar wurde ihm selbst sein eigener Schritt,
leise nur knisterte das Stroh unter seinen Füßen. Hier war schwere
Stille, dumpfe, tote Hitze, schwüler, modriger Geruch von alljährlich
aufgespeicherten, hier gedorrten Getreiden. Alles legte sich mit
lastendem Druck um seinen Kopf, füllte seine Glieder bleiern an,
erstickte das kitzelnde Lachen in der erregten Brust, machte seine
Augen blind, verhieß ihm weiche, heiße Ruhe. Er wanderte mit wohligem
Gefühl in Hitze und Dunkelheit umher, stampfte im Takt seines
aufwachenden, hammerschlagenden Herzens, schwer fühlte er jetzt wieder
die Ströme seines Blutes durch seine Adern sich zwängen, schwerer
fühlte er jetzt sich selbst, nicht mehr leer und schwebend im Rausch
des Sommertags, wie bisher, er fühlte sich angefüllt werden von
niegekannten, hart ihn treibenden, hart ihn bedrängenden Kräften, von
fremdem, stachelndem Verlangen.
    Er suchte nach einem Halt und besann sich auf seine Arbeit. Er
wandte sich wieder dem Ausgang zu. Da stürzte ein Vogel mit scharfem
Schrei durch den lichterfüllten Bogen des Tores in den dunklen Raum,
zerriß Tod und Stille mit trillerndem Ruf und mit dem wie Herzschläge
auf und nieder schnellenden Schwingen seiner Flügel. Eine Atzung im
Schnabel, verschwand er in einer Ecke, die ein Balken, in die Wand
einlaufend, unter dem Giebel des Daches bildete. Der hohe, zarte Ton
der Brut antwortete.
    »Ein Nest«, dachte Fritz. Er kehrte zum Teich zurück.
Stampfend rissen ihn jetzt seine kraftgefüllten Beine vorwärts, seine
Adern, erfüllt von den anströmenden Stößen seines Blutes, pochten in
leisen Schlägen an seine Haut, zuckten in den Flächen seiner Hände. Er
beugte sich zur Arbeit nieder, mühsam nur umfaßten jetzt seine
muskelgespannten Finger die geschmeidigen Weidenruten, lastend drückte
ihn sein niedergebeugter Nacken, schwer zog ihn das Gewicht des
vorströmenden Blutes in dem gesenkten

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