Das verlorene Land
quälte. Sie rannten, ohne sich um Heckenschützen zu kümmern. Oder um Minen. Oder die einfacheren Fallen, die die Piraten und Banditen gestellt hatten, die vor ihnen hier durchgekommen waren. Sie rannten und zählten die Straßenzüge, die sie passierten. Sie rannten weiter, als sie nicht mehr zählen konnten, und rannten noch schneller, als sie überhaupt nicht mehr wussten, wie weit sie noch laufen mussten.
Wenige Straßenzüge vor ihrem Ziel hörte Yusuf das Krachen und Bellen von kleineren Schusswaffen. Der Regenschleier, der ihnen bisher guten Schutz geboten hatte, war dünner geworden, während sie über die lange Avenue auf das Bibliotheksgebäude zuliefen, und so konnte er das Mündungsfeuer der amerikanischen Miliz gut erkennen, bevor er mitten hineingeriet. Tony Katumu bewies sofort, wie wertvoll er war, und drängte Yusuf und die anderen Männer des Saif von der Hauptstraße weg und ein ganzes Stück weit nach Osten, wo sie sich ihren Weg durch eine wilde Ansammlung von umgekippten und ausgebrannten Buswracks bahnten und sich zwischen demolierten Taxis vor einer Schule oder Universität hindurchschlängelten.
»Wenn wir hier gerade durchgehen, kommen wir durch einen Park zum Hintereingang der Bibliothek«, sagte Tony. »Ohne dass die Amerikaner uns bemerken.«
Kämpfer von ungefähr einem halben Dutzend weiterer Saif-Einheiten waren Yusuf und seinen Männern gefolgt, nur weil sie so aussahen, als wüssten sie, wo es langging. Als sie durch das schmutzige knietiefe Wasser wateten, verstärkte sich das krampfartige Gewehrfeuer. Die anderen Kämpfer hatten offenbar den Feind von der Straße her unter Beschuss genommen. Yusuf hätte sich gern mit den anderen Kommandanten abgesprochen, aber keiner von ihnen hatte ein Funkgerät, und sie waren sowieso nicht mit derartigen technischen Errungenschaften vertraut gemacht worden, obwohl sie einmal welche erbeutet hatten. Und so war er gezwungen, so vorzugehen, wie es Kommandanten seit Jahrtausenden taten.
»Schnell, alle her zu mir!«, rief er aus. Die kleine Kampftruppe, bestehend aus zwanzig, vielleicht auch dreißig Mann, die nach der Gewalttour quer durch die Stadt heftig nach Atem rangen, folgte ihm unter ein Baugerüst, von dem zerrissene Plastikfetzen herabhingen und in Wind und Regen flatterten. Er hoffte, dass dieser Turm aus Eisenträgern ihnen genug Schutz vor den über ihnen fliegenden amerikanischen Flugzeugen bot. Als alle in Deckung waren, erklärte er ihnen seinen einfachen Plan.
»Wir werden Tony durch diesen Block folgen und dann auf der anderen Seite der Straße in den Park hinter der Bibliothek eindringen. In diesem Gebäude sind unsere Leute gefangen. Wir können nicht durch den Vordereingang gehen, ohne bemerkt zu werden, aber ich hoffe … Ich bin sicher, dass Gott uns einen anderen Weg von der Rückseite her zeigen wird. Wenn es einen gibt, werden wir ihn nehmen und unsere Frauen und Kinder retten. Ein Trupp von uns wird sie dann zurück in Sicherheit bringen.«
Ein Blick auf seine Männer machte ihm klar, dass keiner sich freiwillig für diese Aufgabe melden würde, da das ja bedeutete, dass man sich vom Feind zurückzog.
»Es ist keine Schande, dies zu tun«, sagte er laut und deutlich. »Die Männer, die es tun, mehren den Ruhm von Fedajin Özal. Und sie helfen denen, die hierbleiben, dabei, ihren Kampf fortzusetzen, wenn sie zurückkommen und Verstärkung und Munition bringen. Wir sind auf beides angewiesen, denn hier an dieser Stelle werden heute sehr viele Amerikaner sterben.«
Er beendete seine Ansprache mit einem gellenden Kriegsschrei, so gellend, wie ein Junge in seinem Alter eben schreien kann, wenn er sich an eine Gruppe eisenharter, erprobter Kämpfer wandte, die fast alle älter waren als er. Es funktionierte trotzdem. Die Männer stimmten in sein Geschrei ein.
»Gehen wir also«, sagte er laut, um den Regen zu übertönen, der auf die Plastikummantelung trommelte. »Tony, du führst uns.«
Tony Katumo schien ein paar Zentimeter zu wachsen, als er ausrief: »Folgt mir!«, und die Fedajin in den Kampf führte.
44
Kansas City, Missouri
In welchem Kreis der Hölle finden wir nur diese Leute, fragte sich Kipper.
Die Satellitenverbindung war nicht gerade die Beste, und gelegentlich verschwand die Frau auf dem Bildschirm hinter einem elektronischen Schneesturm. Als der Empfang wieder besser war, gab es keinen Zweifel an dem mörderischen Aufleuchten in ihren Augen. Sie sieht aus wie eine Wahnsinnige, dachte der
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