Das verlorene Land
US-Armee und derjenigen der Miliz auswendig zu lernen. Letztere waren glücklicherweise grundsätzlich in Grau gekleidet, nicht in Grün und Braun.
»Während wir warten, sollten wir uns nochmal die Fotos von den amerikanischen Soldaten ansehen«, sagte Yusuf und erntete den lautstarken Protest seiner Männer.
»Nicht schon wieder«, stöhnte Selim. »Bitte nicht schon wieder.«
Während sie angespannt auf die Befehle warteten, mit denen sie an die Front beordert werden sollten, brach plötzlich eine eigenartige Stille aus. Yusuf drehte sich um und sah, dass Ahmet Özal und eigenartigerweise auch der Emir selbst im hinteren Bereich des Kaufhauses aufgetaucht waren. Alle Disziplin schwand dahin, als alle fünfzig oder sechzig Kämpfer aufsprangen, um sich ihren Führern zu nähern. Da sie Özal Gefolgschaft geschworen
hatten, galt ihre Loyalität zuallererst ihrem türkischen Führer, aber der Emir war eine legendäre Gestalt, beinahe schon mythisch verklärt. Seine seltenen Auftritte wurden im Nachhinein von den Männern immer ausführlich diskutiert, und man erinnerte sich immer wieder gern daran.
Der Emir sprach niemals böse mit irgendjemandem. Er hatte die Gabe, sich an jeden Namen zu erinnern, und merkte sich noch die unbedeutendsten Details aus dem Leben seiner Anhänger, wenn er einmal mit ihnen gesprochen hatte. Er war überaus großzügig und schickte den Männern als Dank für ihren Einsatz oftmals kleine Geschenke oder Zeichen seiner Wertschätzung, wenn er sie nicht persönlich aufsuchen konnte. Man erzählte sich, dass er keine Beutegüter aus der Stadt für sich persönlich nahm, sondern alles an die Familien seiner Kämpfer weitergab. Die Geschichte von Yusufs Verschonung, nachdem dieser zugegeben hatte, dass er auf Ellis Island schwachgeworden war, und der anschließenden großzügigen Belohnung für die Informationen, die er mitgebracht hatte, hatte sich wie ein Lauffeuer unter den Fedajin verbreitet. Yusuf, der erwartet hatte, dass man ihn als Feigling ächten und als jämmerlichen Außenseiter an den Rand und womöglich in den Selbstmord drängen würde, stellte fest, dass er bewundert wurde. Schlimmstenfalls zog man ihn freundlich auf, wenn man ihn auf die genossenen Freuden im Harem des Emirs ansprach, wo er ja bloß einen einzigen Tag zugebracht hatte. Dem Emir gelang es nicht nur, seine Männer zu treuen Kämpfern zu machen. Nachdem Yusuf ihn eine Woche lang beobachtet hatte, verstand er, was der Feind niemals verstehen würde: Der Emir setzte nicht nur auf die Loyalität seiner Männer. Er wusste, wie er ihre uneingeschränkte Zuneigung erlangen konnte.
Trotzdem sah er heute nicht glücklich aus. Sein Gesicht wirkte düster und nachdenklich und passte damit perfekt
zu dem schauderhaften Wetter und den beunruhigenden Nachrichten von der Front. Als der Emir sich seinen Weg zwischen den geplünderten Regalen und Warentischen hindurchbahnte, über eine Schaufensterpuppe sprang und mit seinen Stiefeln über knirschende Glassplitter schritt, konnte Yusuf sich des Gefühls nicht erwehren, dass irgendetwas schrecklich schiefgelaufen war. Seine Befürchtungen wurden noch verstärkt, als der Emir beide Hände hob und seine Kämpfer aufforderte, sich um ihn zu scharen und still zu sein.
»Meine Freunde, ich bringe schlechte Nachrichten«, gab er bekannt. Sorgenvolles Gemurmel breitete sich unter den Männern aus. »Ich habe Neuigkeiten von der Front. Die Amerikaner haben eine Bresche durch die Linie unserer Verbündeten geschlagen …«
Das Murmeln klang düsterer und drohender, aber der Emir machte eine besänftigende Handbewegung, um die kleine Versammlung zu beruhigen. »Das war auch zu erwarten«, fuhr er fort. »Sie werfen alles, was sie haben, in diesen Kampf, und unsere … Verbündeten … sind nicht so gut ausgerüstet wie wir. Außerdem kämpfen sie nicht für ein höheres Ziel. Wir können nicht erwarten, dass sie sich Gottes Willen unterwerfen und seine Arbeit erledigen, wenn sie nicht den unbedingten Glauben an ihn haben. Sie kennen doch nur ihre Gier. Wir sollten sie nicht dafür verurteilen. Sie haben unser Mitgefühl, und wir sollten ihnen vergeben, wie Allah es tun wird.«
Yusuf stellte überrascht fest, dass ihm Tränen in die Augen stiegen, und spürte einen Kloß im Hals. Während er dem Emir zuhörte, verwandelte sich seine Wut über das Versagen der Banditen in Mitleid und sogar ein wenig Schamgefühl.
»Da es nun mal so ist, kommen besonders schwere Aufgaben auf uns zu.
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