Das verlorene Land
Geheimdienstberichten, die sie auf dem Flug von Berlin nach New York gelesen hatte, war von kleinen Camps mit Zivilisten die Rede gewesen. Ursprünglich hatte man gedacht, es handle sich um irreguläre
Siedler, aber möglicherweise waren sie Teil von Baumers irrwitzigem Kolonisationsplan.
Sie überprüfte erneut ihre Position, während sie immer mehr an Höhe verlor und sich gleichzeitig immer mehr ihrem Landeplatz näherte. Die einzelnen Lichter wirkten so klein und verlassen, dass sie überhaupt nicht zu dem wahnsinnigen Feuerwerk zu passen schienen, das im Herzen der Metropole tobte. Doch Caitlin wusste es besser. Sogar die kleinsten, unscheinbarsten Dinge konnten auf irgendeine Weise Verbindung zu den großen Antriebskräften haben, die die Angelegenheiten der Menschheit, der Staaten und Völker wesentlich beeinflussten. Unter ihr glitten die östlichen Ausläufer des Hudson vorbei, die in der Dunkelheit allerdings kaum auszumachen waren. Sie konzentrierte sich wieder auf das GPS-Gerät und den Höhenmesser und verbannte alle nutzlosen Gedanken und Spekulationen über den weiteren Ablauf ihrer Mission aus dem Kopf. Sie näherte sich dem gefährlichsten Teil ihres Absprungs, denn jetzt musste sie direkt über die Stadt navigieren, eine Stadt, die, abgesehen von dem Aufblitzen des Geschützfeuers am anderen Ende der Insel, unbeleuchtet war. Die Spezialisten der Fallschirmtruppe hatten ihre Flugbahn kalkuliert, und auf dem Papier hatte alles ganz gut ausgesehen. Aber dennoch war es eine höllisch schwierige Angelegenheit, bei schlechtem Wetter über eine dunkle, vom Krieg erschütterte Stadt zu gleiten, von der Gefahr abgesehen, von feindlichen Schützen unter Beschuss genommen zu werden oder sich bei der Landung übel zu verletzen. Als sie über das City College flog – jedenfalls behauptete ihr GPS, dass es das City College sei -, schaute sie auf die Uhr und spähte Richtung Süden, wo der Feuerschein zu sehen war. Bald würden die Kanonen wieder schießen.
Sie glaubte schon den Widerschein von Artilleriefeuer zu sehen, als sie über den nördlichen Zipfel des Central Park segelte. Die scharfkantigen Umrisse der umstehenden
Gebäude, die sich vor dem Aufblitzen der explodierenden Geschosse düster abhoben, wurden abgelöst durch die weite Fläche des verwilderten Parks. Sie fasste über ihren Kopf und schob die Nachtsichtlinse über ihre Schutzbrille, wobei sie genau darauf achtete, dass sie nicht Richtung Süden abgetrieben wurde. Wenige Sekunden später hört sie die erste Granate, die vom Stützpunkt auf Governors Island abgeschossen wurde und im südlichen Teil des Parks mit unglaublicher Wucht explodierte, alte Bäume aus dem Erdreich riss, das Karussell zerstörte und, wie sie hoffte, die Aufmerksamkeit möglicher Beobachter von der dunklen Silhouette ablenkte, die durch die Luft nach unten auf das hüfthohe Gras des Parks zufiel.
Sie konzentrierte sich auf den Landepunkt. Da der Boden derart überwuchert war, lief sie Gefahr, sich die Beine zu brechen, wenn sie gegen eine versteckte Betonbank prallte. Dieses Risiko versuchte sie zu minimieren, indem sie auf die Mitte der weiten Brachfläche zusteuerte. Durch die Nachtsichtbrille sah sie, wie der Erdboden ihr mit unbarmherziger Geschwindigkeit entgegenkam. Sie zögerte den letzten Moment hinaus, ließ sich dann direkt hinabfallen, spürte den Grund unter ihren Füßen und fand Halt.
Sie war unten.
Das Bombardement der Artillerie war kurz, aber effektiv. Caitlin befreite sich von ihrem Fallschirm und dem Helm und konnte sich nun die Nachtsichtbrille besser aufsetzen, bevor sie sich auf den Weg zu ihrem ersten Zielpunkt machte, dem Plaza Hotel. Im Park wurde sie nicht angegriffen. In ihrem Briefing hatte sie gelesen, dass dieses Gebiet nicht besetzt war. Die freie Fläche war viel zu gefährlich für Aufständische oder Piraten. Wenn sie versuchen sollten, sie zu überqueren, wären sie Luftangriffen und Artilleriebeschuss ungeschützt ausgeliefert. Der Central Park war ein Niemandsland.
Sie hielt sich an die ehemaligen Wege, und ging immer nur abschnittsweise voran, um dann innezuhalten und zu prüfen, ob irgendwo Gefahr lauerte. Wenn der Untergrund deutlicher zu sehen gewesen wäre, hätte sie die Wege verlassen, aber da der Park völlig verwildert war und überall Bombentrichter und Granatlöcher waren, wollte sie lieber kein Risiko eingehen. Sie brauchte fast eine halbe Stunde, um den Weg zu den Überresten der kleinen Steinbrücke neben dem
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