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Das verlorene Land

Das verlorene Land

Titel: Das verlorene Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Birmingham
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dieser kurzen Zeit verändert. Vor noch gar nicht so langer Zeit hätte er nicht gewagt, die Worte des Propheten auf seine eigene Art zu interpretieren oder eine Meinung dazu zu entwickeln, vor allem, wenn er andere Ansichten hatte als seine älteren Glaubensbrüder. Aber als er sich jetzt einen Knochensplitter aus dem Gesicht wischte und über sein eigenes Ende nachdachte, kam es ihm so vor, als würde er viel besser verstehen, was der Prophet von seinen Anhängern verlangte, als die Führer seiner Glaubensgemeinschaft.
    Ehrlichkeit, Mut, Bescheidenheit, Rechtschaffenheit und sogar Freundlichkeit und Barmherzigkeit – das alles gehörte zu ihrem Leben. Yusuf schüttelte verzweifelt den Kopf, als er an die Frauen und Kinder dachte, die sie eigentlich schützen sollten. Nur drei von ihnen waren noch am Leben. Die Fedajin hatten alles Menschenmögliche getan, um innerhalb des Gebäudes eine Art Bunker einzurichten, in dem die Unschuldigen sich verstecken konnten, aber die Amerikaner hatten derart viele Granaten mit einer unglaublichen Hemmungslosigkeit hereingeworfen, dass einige Kinder in Panik sich sogar von ihren Müttern losgerissen hatten und …
    Sein Magen zog sich zusammen, und er würgte eine halbe Minute lang, ohne dass er noch etwas herausbrachte.

    Was taten sie eigentlich hier in dieser Stadt?
    Welcher Dummkopf hatte sie auf dieses Schlachtfeld geschickt?
    Das Feuer der Amerikaner ließ kurz nach, und er hoffte, dass sie sich zurückziehen würden, aber dann ging es erneut los und wurde noch heftiger.
    Sicherlich war es nicht die Schuld des Emirs, der doch wissen musste, wie gefährlich es hier war, oder? Nicht angesichts der großen Mengen von konservierten Nahrungsmitteln an anderen Orten und sogar wildem Gemüse, das draußen auf dem Land geerntet werden konnte.
    Er wechselte das Magazin seiner Kalaschnikow, es war seine letzte Munition. Es musste doch eine Erklärung dafür geben. Oder es war ein Fehler passiert. Leider kamen Fehler in Kriegen genauso häufig vor wie Todesfälle und Verletzungen. Vielleicht hatte man den Emir falsch informiert. Trotz allem war er ja auch nur ein Mensch.
    Yusuf hob sein Gewehr über den Rand der Barrikade und gab zwei Schüsse in die Richtung des kleinen Raums ab, in dem die Amerikaner festsaßen. Er war unzufrieden mit sich, weil er so viele Zweifel hegte. Natürlich nicht gegenüber Gott, aber an den Botschaftern, die er auf die Erde geschickt hatte. Der Emir und Ahmet Özal und die anderen Befehlshaber der Fedajin – sie alle waren nur Menschen und konnten sich irren. Er selbst hatte das mehr als einmal beobachtet, auch an sich selbst. Sein Versagen auf der Insel, als der große Kampf begann, war nicht aufgrund einer falschen Einschätzung zustande gekommen, sondern weil er Angst gehabt hatte. Er hatte seinen Gott und seine Kameraden im Stich gelassen, weil er ein Feigling gewesen war. Und nun war er hier und hatte die Chance, sein Versagen wiedergutzumachen. Aber was tat er stattdessen? Er schob anderen die Verantwortung für seine missliche Lage zu.

    Yusuf Mohammed war jetzt fest entschlossen, die kurze Zeit, die ihm noch blieb, besser zu nutzen. Er wollte nicht mehr zweifeln und fragen oder den Fehler bei den anderen suchen, wenn er doch in Wirklichkeit bei ihm selbst lag. So viele waren gestorben für den Traum von einer neuen Heimat, wo das Licht und die Güte Allahs über allen scheinen sollte, die ihr Herz für seine Liebe öffneten. Immerhin war er, Yusuf, noch am Leben. Aber welchen Sinn hatte sein Leben noch?
    Keinen.
    Er spürte, wie die Übelkeit ihn wieder überkam. Der Ekel vor einer Existenz ohne Sinn.
    Er nahm sein Gewehr fest in die Hand, atmete tief ein und war nun bereit, mit dem Namen Allahs auf den Lippen zu sterben. Er sprang hinter seiner Deckung auf, stand aufgerichtet da, zielte mit seiner Waffe auf den dunklen Raum, aus dem zerstörerische Flammen züngelten.
    »Allahu akbar!«, schrie er auf und feuerte wieder und wieder auf den Feind.
    Leuchtspurmunition zischte an seinem Kopf vorbei, während noch viel mehr unsichtbare Geschosse um ihn herum jaulten und krachten. Allah hielt seine schützende Hand über ihn, und er wurde nicht getroffen. Zumindest eine ganze Weile lang. Die Feuerstöße der Amerikaner brachen über seine Kameraden herein und mähten sie um, während er inmitten dieses Sturms aufrecht dastand und ihm nichts passierte.
    »Allahu ak…«
    Der Schrei erstarb in seiner Kehle, als er das seltsamste und unwahrscheinlichste

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