Das verlorene Observatorium
Präparationsnadeln, gebogene chirurgische Nadeln, Seiden- und Polyesterfäden und zahlreiche andere Dinge, die allesamt mit ihrer Arbeit zu tun hatten. Und worin bestand ihre Arbeit? Bis zu ihrer Entlassung war Anna Tap als Textilkonservatorin im Stadtmuseum beschäftigt. Sie reinigte und präparierte Kleider, Gobelins, Sitzbezüge, Kimonos, Tagesdecken, Laken, Stickereien, Anzüge, Krawatten, Taschentücher, Spitzenschleier, Fahnen, Puppenkostüme, Hemden, Blusen, Socken, Gabardine, Wamse, Strumpfhosen, Pantalons, Bischofsmitren, Hosen, Röcke, Hüte, Handschuhe und zahlreiche andere Dinge. Sie arbeitete mit Roßhaar, Menschenhaar, Pelzen, Federn, Spitze, Wolle, Baumwolle, Nylon, Samt, Filz, Seide, Rupfen und zahlreichen anderen Stoffen. Sie erinnerte sich, wie es war, diese verschiedenen Materialien zu berühren, sie reinigte sie, sie konservierte sie, damit man sich noch in vielen Jahren ihrer erinnerte. Dennoch vergaß sie nicht, während sie sich über ihre Arbeitsgegenstände beugte, daß die Träger dieser Dinge oder ihre Besitzer bereits vor Jahren gestorben waren, manchmal sogar vor Jahrhunderten. Die Dinge hatten ihre Besitzer überlebt. Die Dinge hatten jedesmal den Sieg davongetragen. Und sie sorgte gewissenhaft dafür, daß sie auch in Zukunft gewinnen würden. Sie half sogar, dachte sie damals, die Siege der Dinge zu vervollständigen. Ein Teil ihrer Aufgabe als Textilkonservatorin bestand in der Reinigung der Gegenstände. Und während sie sie reinigte, entfernte sie all die verschiedenen autobiographischen Fragmente, die sie noch besaßen. Sie entfernte alle Spuren und Flecken, alles, was von den Besitzern noch daran haftete. Sie entfernte Schweiß, Lippenstift, Speisereste, Matsch, Wein, Blut, Sperma und zahlreiche andere Erinnerungen. Sie entfernte sämtliche Geheimnisse von diesen Dingen, bis nur noch der Gegenstand selbst übrig war, sauber und knitterfrei. Sie war praktisch eine Waschmaschine der Geschichte.
Doch die Dinge rächten sich an Anna, statt ihr dankbar zu sein, daß sie sie so großmütig erhalten und bei ihrem Sieg über den Menschen unterstützt hatte. Ihre Augen, davon waren die Dinge überzeugt, hatten zuviel gesehen, hatten all ihre kleinen Geheimnisse gelesen, bevor sie entfernt wurden.
Anna Tap, über so vielen Stoffen kauernd, ihre bebrillten Augen auf winzige Fäden richtend, hatte zu erblinden begonnen. Im Verlauf der Jahre waren ihre Gläser immer dicker geworden, bis sie sich schließlich mehr auf ihren Tastsinn als ihr Sehvermögen verlassen mußte. Und das war nicht gut. Durchaus möglich, daß sie versehentlich eine dieser winzigen Fasern zerriß, durchaus möglich, daß sie eigene Flecken hinzufügte. Sie mußte also gehen. Den Gegenständen zuliebe hatten die Gegenstände so verfügt. Nachdem ihr Augenlicht zu schwach geworden war, wurde sie entlassen.
Dann blieb der arbeitslosen Anna Tap außer ihren Augen nur noch wenig anderes, worüber es nachzudenken galt. Der letzte Augenarzt hatte gesagt, daß er leider nichts tun könne, daß sie leider erblinden werde. Nach der gescheiterten Trabekulektomie, sagte er, und angesichts andauernder Resistenz gegen Acetazolamid und Pilocarpin erscheint es unmöglich, die weitere Steigerung des Augeninnendrucks zu vermeiden. Kurzum, wir sind nicht in der Lage, die körpereigene Produktion von Kammerwasser zu verringern. Das Augengewebe werde gedehnt, sagte er und dadurch wird sich die Bindehaut entzünden, was dazu führen wird, dass die Augäpfel in ihrem Schädel so hart werden wie zwei kleine Steine. Im Anschluss daran, fürchte ich und wir wollen uns doch nichts vormachen, werden Sie erblinden. Dieser Vorgang wird zu heftigen Reizungen führen, die Sie aber durch die Einnahme von Medikamenten lindern können. Er gab ihr ein Arzneifläschchen mit der Aufschrift DIHYDROKODEINTARTRAT, hochdosiertes Kodein, sagte er, das dürfte die Schmerzen verringern. Anna Tap erinnerte sich, daß sie sehr viele Augenärzte aufgesucht hatte und daß sich keiner erinnern konnte, jemals einen so schlimmen Fall wie den ihren gesehen zu haben. Und daß es nichts gab, was man für sie tun konnte. Kurz darauf begann Anna Tap zu beten. Sie betete, daß ihr Sehvermögen gerettet wurde, doch bislang, so erinnerte sie sich, waren ihre Gebete nicht erhört worden, auch wenn sie sicher war, daß sich dies noch rechtzeitig ändern würde. Nur für alle Fälle hatte sie einen Großteil ihrer Sachen verkauft, ihr Hab und Gut auf einen überschaubaren Umfang
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