Das verlorene Regiment 01 - Der letzte Befehl
erwarten, der jede Vorstellung überstieg.
Nur Wochen vor der Hochzeit konnte er sich eines Abends nicht wie geplant zu Hause auf die Vorbereitung seines Unterrichts konzentrieren, weil er immer an Mary denken musste, und so machte er sich lieber auf, um ihr zu Hause einen überraschenden Besuch abzustatten. Er wusste, dass ihre Eltern nicht daheim waren, aber sie trauten ihm und hätten nichts dagegen einzuwenden gehabt, dass er allein bei Mary war. Die Eingangstür vorne stand einen Spalt weit offen, und mit der lausbübischen Absicht, Mary zu erschrecken, schlich er sich ein.
Dann vernahm er Laute aus ihrem Schlafzimmer, allzu unmissverständliche Laute, leise Schreie, von denen er sich bislang erträumt hatte, dass nur er sie jemals zu hören bekommen würde. Obwohl ihn der Gedanke anwiderte, dieses Zimmer zu betreten, musste er sich trotzdem Gewissheit verschaffen – und dann wünschte er sich, er hätte es nie getan, denn der Anblick, wie Mary mit einem anderen im Bett lag, verfolgte ihn später stets.
Drei Jahre später erzählte ihm im Frühling von ’64 der Colonel eines anderen Regiments, dem Divisionskommandeur zufolge hätte »dieser Bücherwurm von einem Professor beim 35. Eis in den Adern und Feuer im Herzen, das nach einem verdammt guten Kampf verlangt. Verflucht, ich denke, er kennt keine Angst, und Schmerzen machen ihn nicht Bange.«
Andrew lächelte innerlich, als er daran zurückdachte. Vielleicht war es letztlich Mary gewesen, die ihn zu einem so guten Soldaten machte, denn er konnte wirklich eiskalten Mut aufbringen und eine Leidenschaft fürs Zerstörerische entwickeln, wenn es nötig wurde. Er hatte gelernt, dass sich ein glücklicher Mann nicht unbesonnen in den Krieg stürzte – nur Jugendliche voller Naivität taten es und Männer, denen man schon so wehgetan hatte, dass sie nichts mehr scherte und sie nur irgendwie ihrem traurigen leeren Dasein entfliehen wollten.
»Warum machen Sie ein so trauriges Gesicht, Andrew?«
»Oh, es ist nichts, Kathleen«, antwortete er leise und bemühte sich, sie nicht anzublicken. Berührte sie ihn letztlich doch?, fragte er sich. Konnte er je wieder einer Frau vertrauen nach allem, was geschehen war? Im Herzen zweifelte er daran.
»Sehen Sie sich nur an, wie schön das ist!«, rief sie und nahm ein schön gefertigtes Schmuckkästchen zur Hand, auf dessen Deckel eine Emailarbeit glänzte; das Kunstwerk stellte einen Krieger dar, der sich vor einer in schimmernde blaue Gewänder gekleideten Dame verneigte.
Andrew sah den Händler und deutete lächelnd auf das Kästchen.
»Andrew, bitte nicht.«
»Bitte – ein kleines Andenken, weil Sie mir einen solch reizenden Tag geschenkt haben.«
»Ich kann es nicht annehmen«, wandte sie schüchtern ein.
»Aber es ist schon geschehen.«
Andrew griff in die Tasche, holte einen Silberdollar hervor und schnippte ihn dem Kaufmann zu, machte sich nicht die Mühe zu feilschen.
Ganz aufgeregt über ein solches Angebot, beugte sich der Händler nach hinten und zog ein umwerfendes rotes Kopftuch hervor, bestickt mit Silberfaden, und er deutete an, dass es ein Geschenk für die Dame wäre.
Dann deutete er auf das Kästchen und die Gestalt darauf.
»Ilja Murometz«, sagte er.
»Ilja Murometz?«, fragte Andrew aufgeregt.
Lächelnd nickte der Kaufmann, während er Kästchen und Kopftuch zur Hand nahm, um beides einzupacken.
»Das ist ein Name aus alten folkloristischen Legenden Russlands!«, rief Andrew und blickte Kathleen an. »Ich entsinne mich, in einer Sammlung volkstümlicher Erzählungen von ihm gelesen zu haben. Ein fabelhafter Charakter, eine meiner Lieblingsgestalten. Das ist ein weiterer Beweis. Die Menschen hier stammen aus dem mittelalterlichen Russland und wurden auf dem gleichen Weg wie wir hierher versetzt.«
»Aber wie?«
»Das ist das Geheimnis, dem wir noch auf den Grund gehen müssen.«
Der Kaufmann reichte Kathleen das bunt eingepackte Präsent, und sie nahm es lächelnd entgegen, während sich hinter dem Kaufmann die ganze Familie und seine Handwerker tief verbeugten, da sie der Ehre dieses Besuchs teilhaftig geworden waren und eine solch unglaubliche Summe in Silber für ihre Arbeit erhalten hatten.
»Ich denke, Sie haben zu viel bezahlt!«, flüsterte Kathleen. »Ein paar Kupfermünzen hätten auch gereicht.«
»Ich habe hier einen Freund gewonnen. Bis zum Abend hat die ganze Straße von diesem Kauf erfahren und wird uns in umso hellerem Licht betrachten.«
»Und berechnet uns
Weitere Kostenlose Bücher