Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
den Versammlungen am
Morgen und am Abend bei, die sich mit Regierungsangelegenheiten beschäftigten und in der Hauptkabine der
›Robbenhoffnung‹ abgehalten wurden. Fliegende
ikarische Boten brachten der jungen Frau alles, was sie
an Dokumenten und Nachrichten vom Festland benötigte.
Bei den Sternen, dachte sie, beinahe zur Verzweiflung
getrieben, ich kann es nicht erwarten, so viel wie möglich
auf der Insel des Nebels und der Erinnerung zu entdekken, diese Kinder zu gebären und mich dann so bald wie
möglich Axis anzuschließen. Obwohl sie bei jedem
Atemzug ihres Mannes ein leichtes Ziehen an ihrer Seele
wahrnehmen konnte – vielleicht ein Nachhall des
Sternentanzes – hatte Aschure während des letzten
Monats sonst nur wenig von ihm gehört. Nachrichten
trafen höchst unregelmäßig ein, und sie besagten
lediglich, daß der Krieger seine Armee nach Norden
führte. Nach Norden und immer weiter nach Norden.
Aschure ging davon aus, daß er inzwischen tief in die
Provinz eingedrungen sein mußte, und ein Angstschauer
überlief sie. Lebt, Axis! Lebt! Glaubt stark genug an
Euch selbst, um für mich am Leben zu bleiben!
Sternenströmer wandte sich vom Bug des Schiffes ab
und näherte sich der Stelle, wo Aschure und Isgriff unter
einem Segeltuchbaldachin saßen.
»Prinz, wie weit noch?«
Der Herr von Nor lächelte zurückhaltend. »Wir können nicht mehr allzu weit entfernt sein, Sternenströmer.
Warum verlaßt Ihr uns erdgebundene Wesen nicht und
fliegt lieber den Weg bis dorthin?«
Der ikarische Zauberer musterte seine Schwiegertochter. »Nein, Prinz, ich bleibe bei Aschure, ganz wie ich es
Axis versprochen habe.«
Die Augen der jungen Frau verengten sich. Was genau
hatte er ihrem Gemahl versprochen? Sternenströmer legte
seit Axis’ Abreise eine vorbildliche Haltung an den Tag.
Aschure wußte, daß ihm dies schwergefallen sein mußte,
denn er verbrachte viele Stunden des Tages in ihrer
Gesellschaft und sang den Zwillingen in ihrem Leib oder
Caelum leise etwas vor. Nicht einmal hatte sie eine
Berührung oder einen Blick von ihm gespürt, die etwas
anderes als Zurückhaltung ausgedrückt hätten, nicht
einmal hatten sein Verhalten oder seine Gesprächsthemen die Grenzen des guten Benehmens überschritten.
Das jedoch sah Axis’ Vater alles andere als ähnlich.
Zumal dann nicht, wenn sie die Tiefe seiner Leidenschaft
für sie in Betracht zog. Aschure fragte sich, ob es wohl
an ihrer Schwangerschaft liegen mochte, daß Sternenströmer von seinen Begierden Abstand nahm. Vielleicht,
wenn sie erst einmal Axis’ Kinder geboren hatte …
Leises Flügelschlagen unterbrach ihre Gedanken, und
sie richtete sich in ihrem Sessel auf, als ein Fernaufklärer
sanft auf dem Deck landete.
Er verbeugte sich vor Aschure. »Zauberin, ein Ikarier
nähert sich uns aus südlicher Richtung.«
»Von der Insel!« rief Sternenströmer. »Um wen handelt es sich? Konntet Ihr nicht erkennen, wer es ist?«
Der Kundschafter antwortete mit einem Kopfschütteln. »Nein, Sternenströmer. Der Vogelmensch ist noch
zu weit entfernt.«
»Ich danke Euch«, erklärte Aschure, neigte das Haupt
und lächelte ihrem Schwiegervater zu, als der Kundschafter
sich wieder in die Lüfte erhob. »Beruhigt Euch, Sternenströmer. Wir werden es gewiß schon bald genug erfahren.«
Aber selbst Aschure konnte ihre Aufregung kaum
bezähmen, und so kämpfte sie sich aus ihrem Sessel
hoch, indem sie schließlich Sternenströmers Hand ergriff,
um sich helfen zu lassen.
»Ist es …« setzte sie an, während sie sich an die Reling lehnte und den Blick zum südlichen Himmel hob,
wo sich eben eine dunkle Gestalt aus dem Dunst löste.
»Glaubt Ihr, das könnte …?«
»Freierfall!« rief Sternenströmer und schwang sich in
die Luft, weil er sich einfach nicht mehr zurückzuhalten
vermochte.
Gleich darauf landeten Freierfall und Sternenströmer
zusammen auf dem Deck und umarmten einander
stürmisch, bevor der junge Vogelmann sich Aschure
zuwandte.
»Zauberin« lachte er und zog sie in eine kurze Umarmung. »Euer Umfang ist enorm! Tragt Ihr den gesamten
Nachwuchs der Ikarier in Euch?«
»Manchmal fühlt es sich so an«, lächelte Aschure.
»Wie geht es Euch?«
»Ach, Aschure.« Verzückung zeichnete sich auf Freierfalls Gesicht ab und verlieh seinen violetten Augen das
sanfte Blau des Meeres, das sie umgab. »Ich kann Euch
gar nicht sagen, wie gut! Schon früher habe ich Wunder
und Geheimnisse erblickt, aber niemals solche, die
Weitere Kostenlose Bücher