Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
erstarben schließlich ganz.
Das geschäftige Treiben der Stadt drang nur gedämpft zu
ihnen herüber, und vorübereilende Passanten wirkten wie
Geister, die eher der Einbildung als der Wirklichkeit
entsprungen zu sein schienen.
»Und der Tempelberg?« fragte die junge Frau.
Statt des Prinzen antwortete ihr Sternenströmer. Er
hielt den Blick auf den Nebel gerichtet, der sich vor ihm
ausbreitete. »Der Tempelberg liegt immer im Licht,
Aschure. Der Nebel mag den Fuß des Berges umfangen,
aber das Plateau befindet sich so hoch oben, daß es
immerzu vom Licht der Sonne und der Sterne beschienen
wird.«
»Ihr sprecht so, als hättet Ihr ihn bereits mit eigenen
Augen gesehen, Sternenströmer«, erklärte Isgriff
belustigt.
»Die Ikarier haben den Tempel der Sterne niemals
vergessen, Prinz. Niemals.« Die Stimme des Zauberers
klang ruhig und gleichmütig, und so drehte Isgriff sich
wieder um und nahm seine leise Unterhaltung mit dem
Kutscher neuerlich auf.
Die Straße stieg ein wenig an, als die letzten geduckten Schatten der Gebäude hinter ihnen verschwunden
waren. Den ganzen Morgen lang stiegen sie bergan, die
Straße wand sich höher und höher und wurde immer
steiler. Mittags hielten sie an, um eine Mahlzeit zu sich
zu nehmen und die Pferde zu tränken, aber sie brachen
eilig wieder auf, denn der Prinz erklärte, ein gutes Stück
Weges liege noch vor ihnen.
»Den letzten Abschnitt müssen wir zu Fuß schaffen«,
knurrte er, während er Aschure in den Wagen zurückhob.
Sternenströmer warf ihm einen besorgten Blick zu.
Gegen Mitte des Nachmittags lichtete sich der Nebel,
und Aschure erkannte die Stämme riesiger Bäume und
Büschel von Farnen, die zu beiden Seiten der Straße
wucherten.
»Den größten Teil der südlichen Inselhälfte bedeckt
ein undurchdringlicher Dschungel«, erklärte Isgriff auf
ihren fragenden Blick hin. »Dort wohnt kein Mensch.
Vom Tempelberg und der Gegend um den Hafen herum
abgesehen, befindet sich die Insel in dem Zustand, in
dem die Götter sie geschaffen haben. Die Piraten
kümmern sich nicht um den Urwald. Wer weiß, vielleicht
leben wirklich seltsame Wesen in den Tiefen dieses
grünen Wirrwarrs.«
Aschure konnte inzwischen den ganzen Berg erkennen, der sich vor ihnen erhob. Der majestätische Anblick
und seine Schönheit nahmen ihr den Atem. Der felsige
Gipfel selbst begann nach weiteren zweitausend Schritt
in die Höhe, und niedriges Buschwerk wuchs zwischen
großen Granitplatten. Die Straße führte steil hinauf und
endete nach zwei Dritteln des Weges in einer weiten
Kehre, wo die Wagen zur Rückfahrt gewendet werden
konnten.
Von dort aus führten steile Stufen hoch zum Tempel.
Sternenströmer, dessen vorherige streitlustige Stimmung vergangen zu sein schien, wechselte besorgte
Blicke mit Isgriff.
Aschure bemerkte nichts davon. »Wir sind beinahe
da«, flüsterte sie Caelum aufgeregt zu. »An diesem Ort
lebte einst meine Mutter!«
Trotz der Erinnerungen, die sich ihr wieder erschlossen, seit Axis ihre selbst errichteten inneren Sperren
durchbrochen hatte, fiel es Aschure schwer, sich ihre
Mutter ins Gedächtnis zu rufen. Ein freundliches,
schönes Gesicht, ein paar Worte, eine sanfte Berührung
und ein noch sanfteres Lachen … und dann der geschwärzte Körper, der ein Opfer der Flammen geworden
war.
Oben auf dem Gipfel des Berges hoffte die junge Frau,
Antworten zu finden, nicht nur über die Herkunft ihrer
Mutter, sondern auch, um mehr über sich selbst zu
erfahren. Sowohl Niah als auch Wolfstern, ihre Eltern,
hatten ihr dringend geraten, diesen Ort aufzusuchen, an
dem auch sie sich aufgehalten hatten – den einzigen Ort,
an dem sie alle drei vereint gewesen waren, auch wenn
Aschure gerade eben erst empfangen worden war.
Und dies war der Ort, an dem sie Wolfsterns Worten
zufolge die Möglichkeit fände, zu lernen und die Lehren
anderer zu empfangen. Aber wer mochten diese anderen
sein? Aschure runzelte die Brauen, während sie, das
Gesicht in Caelums Haar vergraben, ein wortloses Lied
summte. Die Priesterinnen? Oder diese seltsamen
Stimmen aus ihrem Traum?
Die junge Frau hoffte, hier alle Antworten zu finden,
denn ohne sie mochten Axis entsetzliche Gefahren
drohen, denen sie nicht entgegenwirken konnte, und
dieser Gedanke erfüllte Aschure mit schrecklicher Angst.
Knarrend kamen die Wagen zum Stehen, und aus
ihren Träumereien gerissen, schreckte Aschure auf. Erst
jetzt nahm sie wahr, wie hoch sie bereits waren.
Die junge
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