Das Vermächtnis der Feen (German Edition)
Spur.
Arthur reckte sich vor, um mehr zu erkennen. »Er muss riesig sein. Ob er schläft?«
»Mag sein«, erwiderte Wolf. »Während der letzten Tage hat das teuflische Vieh Narranda ordentlich zu schaffen gemacht.«
»Ich denke gerade …«, begann Arthur zögernd. »Wäre es nicht einfacher, den Drachen im Schlaf zu überraschen?«
»Dann haben wir unsere Mission zwar erfüllt, doch der Hornkopf, wie ihn unsere kleinen Freunde nennen, kommt davon«, gab Wolf zurück, »und die Bewohner Dorchadons haben das Nachsehen«
»Das stimmt natürlich«, brummte Arthur.
»Gut, wir haben noch etwas Zeit. Ich würde sie gern zu einem kleinen Rundflug nutzen«, entschied Wolf und nahm, ohne das Einverständnis seiner Reiter abzuwarten, Kurs hinaus aufs offene Meer.
Dearmadon, dachte Josie erregt. Ob sie die Insel des Vergessens jetzt gleich mit eigenen Augen sehen würden? Mit einem Mal nahm sie wahr, dass ihr das Atmen schwerer fiel.
Arthur hüstelte. »Brennen euch auch die Augen?«
»Das müssen schon die Nebel über Dearmadon sein«, keuchte Wolf. »Ich werde versuchen, mich etwas nördlicher zu halten, der Qualm treibt direkt auf uns zu.« Damit schlug er einen Bogen, um wenig später über ein Szenario zu fliegen, das Josie derart unwirklich vorkam, dass sie kaum Worte dafür fand.
Die Insel, von der sie so viel gehört hatten, war nicht besonders groß, auch schien sie nicht aus fester Materie zu bestehen, denn ihr Umriss waberte in ständig wechselnden Formen. Wie Projektionen uralter Schwarz-Weiß-Filme tauchten die absonderlichsten Wesen auf, alle möglichen Sidhe und Fabeltiere, in allen nur erdenklichen Gestalten. Sie erschienen und verschwanden wieder, gestikulierten, tanzten oder bekämpften einander in aufflackernden Bühnenbildern, Schiffen, Burgen und Naturszenen, die sich teilweise überlagerten. Alles ging stumm vor sich und war nicht von Bestand. Ab und zu zerfloss eines der geisterhaften Bilder und löste sich, ganz wie ein Flaschengeist, in Rauch auf, der sich zum dunklen Himmel hin verflüchtigte.
»Endstation Fantasielosigkeit«, konstatierte Wolf düster. »Was für ein Schatz geht der Menschheit verloren.«
Erschüttert verfolgten Arthur und Josie das schaurige Spektakel. »Die Geschichten aus den zerfallenen Büchern«, murmelte Arthur.
Josie sagte nichts. Mit den trostlosen Schwaden zogen ebenso trostlose Gedanken durch ihren Kopf. Wie sollte man das hier nur stoppen? In einer Zeit, in der die altüberlieferten Geschichten unwiederbringlich verloren gingen.
»Der Verfall wird sich kaum stoppen lassen«, griff Wolf ihre Überlegung auf. »Doch kann man ihn verlangsamen. Arthur hat ja schon einen wichtigen Schritt unternommen. Auch wenn ich von diesem Netz aus Gedanken nicht viel verstehe.«
»Ja«, sagte Arthur nachdenklich. »So traurig das alles ist, bin ich froh, Dearmadon gesehen zu haben. Es bestätigt, wie wichtig das Internetprojekt ist. Immer wenn eines der digitalisierten Bücher aufgerufen wird, ersteht eine der alten Geschichten neu in einem Kopf und wird nicht vergessen.«
»Wenn wir zurück sind, werden wir gleich damit weitermachen«, sagte Josie. »Wenn wir uns ranhalten, schaffen wir drei bis vier Bücher am Tag.«
»Wenn wir zurück sind …«, wiederholte Arthur tonlos und Josie fühlte sogleich wieder den Klammergriff der Angst um ihre Brust.
Wolf drehte ab. »Wir sollten allmählich einen Platz in der Nähe der Höhle suchen. Über dem Niemalsmeer verliert man schnell alles Zeitgefühl.«
»Wolf …«, begann Josie, der schon die ganze Zeit etwas auf dem Herzen lag.
»Diesen Wunsch kann ich dir leider nicht erfüllen«, antwortete ihr vierbeiniger Gefährte, während er schon das Ufer ansteuerte.
»Worum geht es eigentlich?«, erkundigte sich Arthur.
»Ich würde zu gern einen Blick auf Memoron werfen«, sagte Josie. »Mir ginge es viel besser, wenn ich wüsste, wie Wolfs Zukunft aussieht.«
»Wie ich bereits sagte, das geht nicht«, wiederholte sich Wolf. »Die Insel der Erinnerungen ist den Lebenden verborgen. Und noch lebe ich.«
»Noch?« Josie schluckte.
»Mach dir keine Sorgen«, antwortete Wolf und wieder klang etwas mit, wie freudige Erwartung. »Memoron wird für mich das Paradies sein.«
Dann schwiegen sie. Die traurige Gewissheit, dass ihnen nach erfolgreicher Mission ein schwerer Abschied bevorstand, begleitete sie zurück zur Mündung.
Dort wurden ihre Gedanken jäh in die drängenden Erfordernisse des Augenblicks
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