Das Vermächtnis der Feen (German Edition)
wahr. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn. Was bedeutete das alles? Wenn sie nicht verrückt war – und das war sie ja wohl nicht, weil Amy die Amsel ja auch sah … Wenn sie also nicht verrückt war – gab es nur eine einzige, auch nicht eben beruhigende Erklärung: Magie. Es musste Magie sein.
Am nächsten Morgen steckte Taddy muffig vor sich hinbrummelnd zwei kleine Tüten in seine Aktentasche. Eine mit Amys Kaugummi und eine mit einem Wattestäbchen, das Josies Speichel trug. Josie hatte es vor dem Zubettgehen doch noch geschafft, ihren Vater breitzuschlagen. Bei Taddy musste man eben den richtigen Moment abwarten!
»Danke, Taddy, das ist wirklich lieb von dir!«, rief sie ihm noch nach, ehe hinter ihm die Tür ins Schloss fiel.
Auch an diesem Nachmittag führten Amy und Josie wieder gemeinsam Hunde aus. Mit jeder Minute, die sie zusammen verbrachten, spürte Josie mehr, wie ähnlich sie empfanden. Sie liebten die gleiche Art von Musik, hatten vielfach die gleichen Bücher gelesen und hassten jede Form von Gewalt. Ja, sie träumten sogar dasselbe. Beide waren sich sicher, dass ihnen die Amsel auch schon im Traum begegnet war. Und während sie wieder unter der Weide auf dem Hundespielplatz saßen und darüber sprachen, flimmerten plötzlich Bruchstücke ihrer Träume auf. Amy neigte den Kopf zurück und blickte in das tanzende Grün der Blätter.
»Ein Gebäude«, murmelte sie. »Eine eigenartige Form – rund.«
Amys Bild ließ in Josies Kopf etwas klingeln. »Säulen … Und überall Blumen, rote Blumen, ein eigenartiges Rot, das ins Violett geht.«
Amy nickte wie in Trance. »Purpurrot. Rosen. Purpurfarbene Rosen. – Und das Haus ist riesig und es hat Türme, massenhaft Türme, große und kleine …«
Ihre Worte setzten die Fragmente, die Josie vor ihrem inneren Auge sah, zu einem immer schärferen Bild zusammen. »Ein Palast – sehr groß – und er hat tatsächlich Türme, mit eigenartigen Dächern. Sie sind … Sie sehen aus, als wären sie aus Gold.«
Wütendes Bellen, spitzes Gekläffe und das hysterische Gekreische einer Blondine schreckte sie auf.
»Fuß!«, donnerte Amy dem stämmigen Boxer zu, der heute zu ihren Schützlingen gehörte. Anscheinend hatte ihn der Pinscher der Blonden provoziert und er schien wild entschlossen, den kleinen Kläffer als Zwischenmahlzeit zu verspeisen.
Unwillig stand Amy auf, um den Boxer an die Leine zu legen. Die Blondine, die sie wortreich mit Vorwürfen überschüttete, würdigte sie nur mit einem Nasenrümpfen und einem verachtenden Blick.
»Frag mich, wer mehr stinkt, der Köter oder diese aufgedonnerte Zimtzicke«, brummte Amy stirnrunzelnd vor sich hin, als sie den widerstrebenden Boxer zur Bank zerrte. »Es ist eine wahre Plage, wenn man schlechte Laune auch noch riechen muss.«
Josie bewunderte sie. Sie wusste in solchen Fällen nie, wie sie sich verhalten sollte. Amy war viel cooler als sie.
Amy setzte sich wieder hin und sah auf die Uhr. »Die Realität hat uns wieder. Muss die Hunde jetzt sowieso zurückbringen. Gehst du noch mit zu mir?«
»Heute nicht. Vielleicht kommt Taddy etwas früher. Aber du kannst mit zu mir kommen.«
Amy zögerte, dann winkte sie ab. »Nee, lass mal! Was soll ich sagen, wenn dein Dad nach Edna fragt? – Die Wahrheit?« Sie lachte bitter.
Josie verstand Amys Ängste. Und wenn sie ehrlich war, konnte sie auch nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass Taddy nicht versuchen würde, Amy zu helfen, wenn er erfuhr, dass sie ganz auf sich gestellt lebte. Und diese Hilfe würde höchstwahrscheinlich Jugendamt heißen. Erwachsene tickten anders und es gab Dinge, die sie einfach nicht kapierten.
Sie gingen noch ein Stück gemeinsam, dann trennten sich ihre Wege. Verdammt!, dachte Josie, als sie die Dearborn hinunterging. Was für eine total verrückte Geschichte!
Dieses Gefühl, in einer total verrückten Geschichte zu stecken, sollte sich für Josie an diesem Abend noch verstärken.
Taddy kam später, als Josie erwartet hatte. Als er das Appartement betrat, lag sie auf dem Sofa und hörte Musik. Zum Lesen hatte ihr wieder mal die nötige Konzentration gefehlt. Seit ihrer Ankunft in Chicago war sie mit ihrem Buch keine einzige Seite weitergekommen.
Josie fiel sofort auf, wie blass und bedrückt ihr Vater aussah. Er winkte ihr mit einer schwachen Handbewegung einen Gruß zu. Besorgt zog sie die Kopfhörer aus den Ohren. »Was ist los? Tut dir was weh?«
»Nein.« Taddy legte mit einer müden Bewegung
Weitere Kostenlose Bücher