Das Vermächtnis der Feuerelfen
Schwindelgefühl erfasste sie. Sie musste sich an der Reling festhalten, als die Bilder des Albtraums, der sie so viele Winter lang gequält hatte, in rascher Folge an ihr vorbeizogen.
Der Wald …
das Blut …
die Verfolger …
die vielen Toten …
die Frau mit den hellen Haaren …
der Mann mit dem Schattengesicht.
»Dein Schicksal ist besiegelt …«, hörte sie ihn sagen und sah, wie er langsam, fast andächtig, die Hände hob, um die Kapuze zurückzuschieben.
Diesmal brach die Erinnerung nicht ab. In diesem entscheidenden Moment erblickte Caiwen das Antlitz, das sich all die vielen Winter vor ihr verborgen gehalten hatte, und was sie sah, raubte ihr den Atem.
»Du!«, presste sie hervor, während ihr hasserfüllter Blick auf Melrem gerichtet war. »Du hast meine Mutter entführt. Du bist schuld an ihrem Tod!«
MAGIE
E rgreift sie!« Als hätte er bereits damit gerechnet, dass Caiwen ihn durchschaute, gab Melrem den Matrosen den Befehl zum Angriff. Alle Freundlichkeit war aus seinem Gesicht gewichen. Er sah nun genau so aus wie damals, als er Caiwens Mutter verschleppt und die Elfen, die ihr zu Hilfe geeilt waren, getötet hatte. Er schien zu wissen, dass er verloren hatte, und gab sich keine Mühe mehr, die Fassade der Brüderlichkeit aufrechtzuerhalten. Seine Worte wurden von dem Kreischen einiger Möwen fast übertönt, das aus der Dunkelheit jenseits der Reling an Caiwens Ohren drang.
»Was sollen wir tun?« Heylon warf Caiwen einen raschen, panikerfüllten Blick zu. Die ganze Zeit hatte er geschwiegen. Nun fürchtete er um sein Leben.
»Ich … ich weiß es nicht.« Caiwen spürte, wie aufgewühlt Heylon war, wusste aber auch, dass sie ihm nicht helfen konnte. Sie hatte schon zu viele Fehler gemacht. Arglos wie ein Kind war sie jenen gefolgt, die ihre Mutter getötet hatten. Blind hatte sie sich in die Hände derer begeben, die ihr Volk vernichten wollten. Einfältig hatte sie jene für Freunde gehalten, die vorgaben, nur ihr Bestes zu wollen. Jetzt war es für eine Umkehr zu spät. So weit draußen auf dem Ozean war die Annaha eine Falle, aus der es kein Entrinnen gab.
Das Kreischen der Möwen wurde lauter. Trotz der Dunkelheit umkreisten sie das Schiff, und es klang, als würden sie ihr etwas zurufen. Aus den Augenwinkeln sah Caiwen, wie die Matrosen ihre Messer zogen und langsam auf sie zukamen. Nahezu die ganze Mannschaft hatte sich inzwischen an Deck versammelt. Allein die blitzende Katana an der Kehle des Schiffsjungen, der das Geschehen mit Todesfurcht in den Augen verfolgte, hielt sie noch davon ab, sich sofort auf Caiwen und Heylon zu stürzen.
»Worauf wartet ihr noch, ihr Feiglinge?«, schrie Melrem. »Sie sind unbewaffnet.«
»Aber der Junge …«
»Der Junge kümmert mich nicht.«
»Aber Herr, wir können doch nicht …«
»Ah, verdammt, muss man denn alles selbst machen?« Melrem riss dem Matrosen, der ihm am nächsten stand, die Waffe aus der Hand und bewegte sich auf die drei an der Reling zu. »Das wagst du nicht!«, sagte er triumphierend zu Finearfin. »Ich kenne das Gesetz des Zweistromlandes. Ihr tötet keine Unschuldigen.«
»Wie wahr!« Völlig überraschend gab Finearfin den Schiffsjungen frei und versetzte ihm einen Stoß, der ihn gegen Melrem taumeln ließ. »Folgt mir!«, rief sie Caiwen und Heylon zu, während sie sich auf die Reling schwang. »Schnell! Wir müssen springen!«
»Springen?« Entsetzt starrte Heylon erst Finearfin und dann Caiwen an, die wie er zögerte. Was hatte die Elfe vor? Um sie herum war nichts als Wasser. Eisiges Wasser, in dem niemand lange überleben konnte. Wenn sie nicht ertranken, würden sie erfrieren.
Das Rufen der Möwen nahm einen schrillen Klang an. Sie waren jetzt ganz nah, umkreisten die Masten und flogen immer wieder dicht über die Köpfe der Mannschaft hinweg.
Springt!, schienen sie zu krächzen. Springt endlich!
»Ihr faules Lumpenpack!«, hörte Caiwen Melrem brüllen. »Worauf
wartet ihr noch? Der Junge ist frei, also schnappt sie euch!« Er schleuderte den Schiffsjungen zur Seite und stürmte auf Caiwen zu. Auch in die Matrosen kam Bewegung. Nur wenige Schritte trennten sie jetzt noch von den dreien, aber sie erreichten sie nicht. Bruchteile eines Wimpernschlags, nachdem sie sich zum Angriff entschlossen, stürzten sich Hunderte Möwen wie auf ein geheimes Zeichen hin auf die Männer. Allein Melrem wurde von acht Möwen gleichzeitig angegriffen, die sich an seiner Kleidung und in seinen Haaren festkrallten, nach
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