Das Vermächtnis der Montignacs
oder involviert. Ich bin allein und froh darüber.«
Vicky blieb der Mund offen stehen. Sie starrte Stella an, als hätte sie verkündet, gern an einer tödlichen Krankheit zu leiden.
»Also, das überrascht mich jetzt aber sehr«, sagte sie.
»Mir ist es auch ein Rätsel«, erklärte Stella, ohne zu wissen, weshalb sie Raymonds Existenz leugnete. Dennoch amüsierte sie die triumphierende Miene ihrer alten Bekannten, die dachte, sie sei ihr einen Schritt voraus.
»WeiÃt du, was?« Vicky beugte sich vor. »Damien kennt in der Bank eine ganze Reihe vielversprechender junger Männer, und für mich wäre es kein groÃes Problem, ihn zu bitten, nach einem passenden Galan für dich Ausschau zu halten. Wie wäre es, wenn du mir deine Telefonnummer gibst? Ich könnte versuchen, ein Dinner zu arrangieren.«
»Nein, danke«, wehrte Stella hastig ab, denn jetzt sah es aus, als würde sie vom Regen in die Traufe kommen. »So wie es jetzt ist, macht es mich vollkommen glücklich, aber nochmals vielen Dank.«
»Sei doch nicht albern«, sagte Vicky und blähte sich wie eine Spinne, die ihre Fliege bereits im Netz hat. »Wie, um alles in der Welt, kannst du denn ohne Ehemann glücklich sein? Das ist doch grotesk. Ãberlass es einfach mir, ich regele das. Bis Weihnachten haben wir dich verlobt.«
»Nein, wirklich nicht, Vicky.« Stella setzte eine betrübte Miene auf. »Nicht so kurz nach Vaters Tod.«
»Oh«, sagte Vicky sichtlich enttäuscht, »ich verstehe.«
»Es wäre nicht richtig.«
»Vermutlich nicht. Obwohl er sicher wollte, dass du mit deinem Leben weitermachst.«
»Aber vorher brauche ich noch Zeit.« Stella verspürte Gewissensbisse. Wie konnte sie den Tod ihres Vaters ausnutzen, um sich aus einer Klemme zu befreien?
»Das verstehe ich vollkommen«, sagte Vicky. »Aber mach dir keine Sorgen. Wenn ich einen Ehemann finden konnte, kann es jede.«
»Das ist wohl wahr«, antwortete Stella schmunzelnd.
Vickys Augen wurden schmal. War sie etwa beleidigt worden? »Wo wohnst du überhaupt, wenn du in London bist?«, erkundigte sie sich.
»Mein Vater hatte eine Wohnung in Kensington. Dort werde ich künftig absteigen. Allerdings muss dort zuerst einmal gründlich Hausputz gemacht werden, deshalb logiere ich in dieser Woche noch im Claridge. Doch die meiste Zeit verbringe ich unten in Leyville.«
»Gib mir die Adresse«, drängte Vicky, zog Notizbuch und Stift hervor und drückte sie Stella in die Hand. »Dann kann ich mich bei dir melden, und wir treffen uns zum Lunch.«
Stella blieb nichts anderes übrig, als die Adresse aufzuschreiben. Sie reichte Vicky Notizbuch und Stift zurück. Die beiden Frauen verabschiedeten sich voneinander. Stella setzte ihren Weg zur Cork Street fort und ärgerte sich darüber, dass sie die StraÃenseite nicht gewechselt hatte, als sie Vicky hatte kommen sehen. Auch dass ihre frühere Mitschülerin darauf beharrte, das Leben drehe sich um das Vorhandensein eines passenden Ehemanns, ärgerte sie. Vielleicht schätzte sie Raymond deshalb. Er passte so gar nicht zu ihrer Gesellschaftsschicht, und sie würde also eindeutig jemanden heiraten, der unter ihr stand, sodass ihre Beziehung andere nur schockieren konnte. Aber warum hatte sie sich dann nicht zu ihm bekannt? War es, weil sie ihn nicht liebte? Wenn ja, wäre es etwas Gutes, denn sie hatte schon einmal geliebt und wäre daran beinah zerbrochen. Seitdem hatte sie sich geschworen, dergleichen nie mehr wieder zu tun.
Als sie in die Cork Street einbog, erkannte sie Jason Parsons, den Assistenten ihres Cousins, der die Galerie verlieà und offenbar auf dem Weg zum Lunch war. Stella atmete auf. Sie hatte ihren Besuch absichtlich auf Jasons Mittagspause gelegt, um mit ihrem Cousin unter vier Augen sprechen zu können.
4
Der Brief kam, als Roderick und Jane Bentley sich zum Brunch zusammengesetzt hatten. Zuvor war Roderick im Gerichtssaal gewesen und hatte einem wenig aufregenden, langwierigen Prozess vorgesessen, der mittlerweile in die dritte Woche ging. An diesem Tag war jedoch einer der Hauptzeugen der Anklage krank gemeldet worden, und er hatte einen zweitägigen Aufschub der Verhandlung gewährt. Die freien Tage wollte er zu Hause genieÃen, jedoch nicht, wie er seinem schlummernden Sohn gern erklärt hätte, um die Zeit im Bett zu vergeuden.
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