Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
der Überfahrt sprach Brighid Stewart kein Wort. Scrymgour fragte sich, ob sie sich der historischen Bedeutung dieses Augenblicks bewusst war. Oder dachte sie gar nicht in solchen Kategorien? Was auch immer sie sagte, was auch immer sie tat, sie blieb dabei schwer zu durchschauen, was sie in Scrymgours Augen gefährlich machte.
Verstohlen beobachtete er, wie sie auf der Heckducht des alten Fischerkahns saß, der weder ihrem Stand noch dem Anlass angemessen war. Dennoch saß sie aufrecht und hielt das Haupt hoch erhoben. Schon als sie seine Gefangene gewesen war, hatte ihr Stolz, den sie wie einen Schild vor sich hertrug, ihn beeindruckt; nun jedoch schien er erst recht entfesselt, und Scrymgour ertappte sich dabei, dass er in ihr tatsächlich eine Königin sah – oder waren es nur seine eigenen Wünsche und Sehnsüchte, die sich in ihrer Gestalt manifestierten?
Je näher sie dem Ufer kamen, desto heller wurde der Fackelschein und desto deutlicher waren in seinem Licht die maskierten Gestalten zu erkennen, die sich auf der von Bäumen geschützten Uferbank eingefunden hatten. Scrymgour fragte sich gespannt, wie sie auf das reagieren würden, was Brighid Stewart ihnen zu sagen hatte.
Das wenige, von dem in der geheimen Mitteilung die Rede gewesen war, hatte gerade ausgereicht, um ihre Neugier zu wecken und sie dazu zu bewegen, sich aus der Deckung zu wagen; entsprechend wild waren die Gerüchte, die während der letzten Tage die Runde gemacht hatten, doch Scrymgour hatte nichts dagegen unternommen. Die Wahrheit, sagte er sich, war ohnehin um vieles spektakulärer, als selbst das abenteuerlichste Gerücht es jemals sein konnte, und so hatte er sich damit begnügt, sich in dunkle Andeutungen zu hüllen. Erst in dieser Nacht würden die Mitglieder der Runenbruderschaft erfahren, was tatsächlich geschehen war und dass sie dabei waren, ein neues Kapitel in der Geschichte Schottlands aufzuschlagen.
Endlich erreichten sie das Ufer.
Mit leisem Knirschen lief der Kahn auf Grund, und einige Maskierte eilten heran, um ihn aufs Trockene zu ziehen. Scrymgour war der Erste, der an Land ging, dann half er Brighid, die den Nachen erhobenen Hauptes verließ. Sie schlug die Kapuze zurück, sodass ihr schwarzes, kunstvoll geflochtenes Haar zum Vorschein kam, und schlug den Umhang zurück, um ihr königsblaues Kleid zur Schau zu stellen, das sie darunter trug und das an diesen Ort passte wie eine Rose auf einen Haufen Dung. Eskortiert von Scrymgour und seinen Leuten, die nun ihrerseits Fackeln entzündeten, schritt sie die Uferbank hinauf, an deren Ende die Runenbrüder sie gespannt erwarteten.
Die Gespräche der Männer, die sich in einem weiten Halbkreis versammelt hatten, verstummten. Die Augen, die im Fackelschein durch die Sehschlitze der Masken blickten, richteten sich auf die Frau, die inmitten der zur Unkenntlichkeit vermummten Gestalten wie eine lichte Erscheinung wirkte, unnahbar und geheimnisvoll.
Noch ehe sie das Wort ergriff, trat Scrymgour vor, hob in einer Aufmerksamkeit heischenden Geste die Arme und sagte: »Ich danke euch, Brüder, dass ihr dem Ruf gefolgt seid. Die meisten von euch haben sich seit den Tagen der Schmach, die uns von unseren Feinden zugefügt wurde, nicht mehr unter dem Runenzeichen versammelt. Doch womöglich, meine Brüder, ist der Tag, an dem wir uns für all das rächen werden, nicht mehr fern.«
Gemurmel setzte ein. Scrymgour war klar, dass er die Ungeduld der Männer nur noch mehr befeuerte, aber genau das war seine Absicht. »Los schon«, verlangte einer von ihnen, ohne dass zu erkennen gewesen wäre, unter welcher der geschwärzten Masken die Worte hervordrangen, »sagt uns endlich, was hier gespielt wird! Sind die Gerüchte wahr?«
»Sie sind wahr!«
Nicht Scrymgour hatte geantwortet, sondern die Frau. Beleuchtet vom Schein der Fackeln, das Haupt hoch erhoben, trat sie vor die Männer. »Mein Name«, verkündete sie in ihrem klaren, festen Alt, »ist Brighid Stewart. Ich bin die Tochter von Charles Edward Stewart, eurem rechtmäßigen und um sein Erbe betrogenen König – und ich bin gekommen, um mir zu nehmen, was meinem Vater vorenthalten wurde.«
Die Worte verklangen in der Nacht und wichen drückender Stille, nur das Knacken der Fackeln war noch zu hören.
Ob Brighid überrascht über die Reaktion der Männer war, ob sie statt des Schweigens lauten Jubel erwartet hatte, war nicht zu erkennen. Ungerührt fuhr sie in ihrer Rede fort und enthüllte den Männern, was sie auch
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