Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
wieder.
»Schüsse!«, erkannte Scrymgour voller Entsetzen.
----
22
----
Sie waren dem roten Faden gefolgt. Einerseits, weil sie dadurch noch mehr Distanz zwischen sich und die Runenbrüder brachten; andererseits, weil es an seinem Ende womöglich Antworten gab.
Durch dunkle Gänge und über baufällige Stufen waren sie in das Verlies der Festung gelangt, einen unheimlichen Ort, der die Schrecken der Vergangenheit atmete und wo eine einsame Fackel blakenden Schein verbreitete; dort entdeckten sie zu ihrer Überraschung, dass die in den Boden versenkten Steinplatten einen geheimen Einstieg bargen: den Zugang zu einem Stollen, der hinabführte, geradewegs in den gewaltigen Felsen, auf dem Dunnottar Castle stand.
»Donnerwetter«, meinte Quentin anerkennend. »Das ist ja fast wie bei dir in Abbotsford!«
»Die meisten Burgen verfügten in den alten Tagen über geheime Ausgänge«, erklärte Sir Walter. »In Zeiten der Belagerung ermöglichten sie es, hochrangige Personen hinauszuschmuggeln oder Verbündete um Beistand zu ersuchen.«
»Sollen wir hinuntersteigen?«, fragte Mary, in das dunkle Loch blickend. Gleichzeitig waren von draußen wieder Schüsse zu vernehmen, dazu das heisere Geschrei der Kämpfenden.
»Ich denke nicht, dass wir eine Wahl haben«, erwiderte Sir Walter. »Außerdem wissen wir nicht, was aus McCauley geworden ist. Vielleicht finden wir es da unten raus.« Kurzerhand nahm er die Fackel aus der Halterung und schickte sich an, über die schmalen Stufen in die Tiefe zu steigen. Quentin stützte ihn dabei, und so gelangten sie in die Höhlen, die das steinerne Fundament der Burg durchzogen.
Vorsichtig drangen sie in das Halbdunkel vor, dabei immer dem roten Faden folgend, während der Schusslärm hinter ihnen zurückfiel und bald nur noch als fernes Grollen auszumachen war.
Es war ein wahres Labyrinth, das sich tief unter den Mauern der Burg erstreckte und in dem sie ohne den Faden schnell die Orientierung verloren hätten. Eine Höhle reihte sich an die nächste, und Sir Walter begann zu dämmern, was für ein Pfad es war, den sie hier beschritten.
»Unglaublich!«, entfuhr es ihm. »Wisst Ihr noch, als ich sagte, dass diese Burg einst von Cromwells Truppen belagert wurde?«
»Und?«, fragte Quentin.
»Als klar wurde, dass die bis dahin als uneinnehmbar geltende Festung dem Bombardement der englischen Kanonen nicht länger standhalten würde, beschloss man, die schottischen Herrscherinsignien in Sicherheit zu bringen. Die Frau eines Dorfpfarrers wurde damit beauftragt, und tatsächlich gelang es ihr, aus der Festung zu entkommen und die Kronjuwelen in Sicherheit zu bringen. Wie und auf welchem Wege ihr das gelang, gab jedoch bis heute Rätsel auf.«
»Du meinst, es war dieser Geheimgang?«, fragte Mary.
»Ich bin überzeugt davon«, bekräftigte Sir Walter und sandte ihr ein jungenhaftes Lächeln über die Schulter. »Ein Geheimnis hat dieser Ort also bereits preisge…«
»Schhh«, machte Quentin, der ein kurzes Stück vorausgegangen war und plötzlich stehen blieb.
Sir Walter und Mary verharrten.
Stille trat ein, die jedoch nicht so vollkommen war, wie sie erwartet hätten. Abgesehen vom fernen Grollen der Schüsse war auch noch ein Rauschen und Plätschern zu vernehmen, das sehr viel näher klang.
»Wasser«, erkannte Mary.
»Wohl eine unterirdische Quelle, die ins Meer mündet«, nahm Sir Walter an.
Sie setzten ihren Weg fort, und schon kurz darauf wurde offensichtlich, dass Sir Walters Vermutung nicht nur richtig war, sondern dass sie sich geradewegs auf die Quelle zubewegten. Je weiter sie dem Faden folgten, desto lauter wurde das Plätschern, bis aus der Tiefe eines von Tropfsteinen durchzogenen Gewölbes eine Wand aus Wasser auftauchte, die den Schein der Fackel glitzernd reflektierte.
»Wundervoll«, bemerkte Mary, und in der Tat hatte es den Anschein, als wären sie in eine andere, entrückte Welt vorgedrungen. Bizarre Formationen von Sintergestein hingen von der Decke und waren an vielen Stellen mit ihren Brüdern verwachsen, die sich ihnen vom Boden aus entgegenreckten: ein dichter Wald aus weißlichen, von bunten Adern durchzogenen Säulen, jenseits derer der Pfad vor dem Wasserfall endete. Jäh brach der Boden ab und schien zusammen mit dem tosenden Nass in unergründliche Tiefe zu stürzen, die der Lichtschein von Sir Walters Fackel nicht zu ergründen vermochte.
Und, was die Sache noch verkomplizierte: Der Faden endete hier.
»Was ist passiert? Wohin
Weitere Kostenlose Bücher