Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Seltsam. Eccard brachte Kylion zum Stehen und rief: »Erich?« Nichts rührte sich. Selbst der Hund öffnete bloß kurz die Augen. Langsam beschlich Eccard die übliche Sorge, die er immer dann empfand, wenn er den Müller nicht gleich zu Gesicht bekam. Erich war bereits alt wie ein Baum, und jeder auf der Burg rechnete stets mit dem Schlimmsten, doch der betagte Kerl ließ sich nicht von der schweren Arbeit in der Mühle abhalten. Eccard war nun drauf und dran, von seinem Pferd zu steigen und in der Hütte und der Mühle nachzusehen, als er plötzlich etwas hörte. Knarzend öffnete sich die schiefe Holztür der ärmlichen Behausung. Heraus kam Erich – mit zerzaustem Haar und roten Augen.
»Herr, Ihr habt nach mir gerufen? Bitte verzeiht mir, ich … ich bin tatsächlich eingeschlafen.«
»Du bist eingeschlafen? Um diese Zeit? Das kenne ich gar nicht von dir. Ist dir nicht wohl?«
Ein breites Grinsen legte sich auf Erichs Gesicht, während er langsam näherkam. »Oh doch, mir geht es ganz ausgezeichnet. Ich muss gestehen, dass ich gestern zu tief in den Becher geschaut habe. Meine Enkelin hat ihr erstes Kind geboren – einen gesunden Jungen –, und daraufhin erschien ihr Gemahl bei mir in der Hütte, um mit mir anzustoßen. Ganz offensichtlich vertrage ich nicht mehr viel, Herr.«
Nickend pflichtete Eccard ihm bei. »Es sieht ganz so aus, mein alter Freund.«
Mittlerweile stand der Müller vor Kylion und klopfte ihm den Hals. Wie immer holte er eine Hand voll staubiger Körner aus seiner noch staubigeren Tasche und fütterte sie dem Hengst, der ihn bereits frech nach etwas Essbarem zu durchsuchen begonnen hatte. »Er braucht neue Eisen«, stellte Erich kritisch fest.
Eccards Blick glitt an den Beinen des Hengstes hinab. »Ja, da hast du recht. Aber ich bin mir sicher, bis zur Burg wird er es noch schaffen«, erwiderte er zwinkernd. Der alte Erich war ein Pferdenarr, und der edle Kylion hatte es ihm ganz besonders angetan. Es geschah nie, dass Eccard an der Riepenburger Mühle vorbeiritt und Erich nichts zum Zustand des Pferdes sagte. Entweder war er zu dünn, oder sein Fell stumpf oder eben seine Eisen abgenutzt. Eccard wusste, wie er damit umzugehen hatte – schließlich meinte der Müller es nur gut. Mit sanftem Schenkeldruck forderte der Ritter seinen Hengst zum Weiterlaufen auf und verabschiedete sich freundlich von dem Müller: »Leg dich wieder hin, alter Mann, und schlaf dich aus. Ich brauche dich noch länger, als dir lieb sein wird.«
»Das höre ich gerne«, entgegnete Erich lächelnd.
Nur kurze Zeit später sah Eccard die Burg. Zu Hause. Endlich zu Hause. Auch wenn er sich auf der Riepenburg immer schon wohl gefühlt hatte, waren seine Gefühle bei der Heimkehr seit einigen Wochen intensiver als zuvor. Anders als noch vor zwei Monaten, warteten seit der Hochzeit nicht mehr bloß seine Tante Alusch, seine treuen Gefolgsleute und Jons, der Pferdejunge auf ihn, sondern auch Albert und Ragnhild sowie normalerweise seine wunderschöne Ehefrau. Schon bevor er auf den Burghof ritt, bedauerte er, dass sie noch in Kiel und nicht hier bei ihm war, und er freute sich schon darauf, sie bald in Hamburg wiederzusehen.
Schließlich passierte Eccard auf Kylion den ersten Ringwall und grüßte den Wachmann, der am Eingang stand, freundlich. Er ritt über eine Grünfläche, auf der weiter hinten ein paar Fachwerkgebäude standen. Ein Stall, ein Wohnhaus, ein Schuppen, eine Küche. Dann erreichte er den zweiten Ringwall, der die Abgrenzung des breiten Wassergrabens darstellte, und der nur auf einem einzigen Wege zu überqueren war. Auf der Brücke blieb er kurz stehen, denn gerade war sein Gesicht von einem warmen Luftzug gestreift worden, und die Sonne kam hinter den leichten Wolken hervor.
Die Erinnerungen holten ihn ein. Seine ganze Aufmerksamkeit galt nun dem Burghof, wo er Margareta geehelicht hatte. Fast fühlte er sich an jenen Tag zurückversetzt. Sie waren eine kleine Hochzeitsgesellschaft gewesen, doch dafür eine, die sich eng verbunden fühlte. Nur die Burgbewohner, Runa und Godeke mit ihren Familien, die Witwe Ava Schifkneht, die Begine Kethe Mugghele und Ragnhilds einstige Nachbarin und Freundin aus Eppendorf, Hildegard von Horborg, waren zugegen gewesen. Musik von ihrem Freund Sibot, dem Spielmann, und von Walther hatte die Luft erfüllt, als wäre sie ein Teil davon. Warm hatte die spätsommerliche Sonne herab geschienen – so wie jetzt – und die kleine Hochzeitsgesellschaft zu
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