Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
randvolle Becher, als Johann Schinkel auch schon eintrat. Der erste Moment verstrich mit jenem unbehaglichen und vielsagenden Schweigen, dann tat Johann den ersten Schritt.
»Willkommen in meiner Kurie. Ich freue mich, dass es zu diesem Treffen kommen konnte.«
Runa hätte gern etwas auf die freundlichen Worte des Ratsnotars erwidert, doch sie wollte Walther nicht zuvorkommen. Als fügsame Ehefrau, die ihm Respekt zollte, überließ sie ihm das erste Wort. Doch Walther schwieg eisern. Wieder war es Johann, der zu sprechen begann.
»Thymmo habe ich bis jetzt nichts erzählt. Ich bin mir aber sicher, dass er sich sehr freuen wird.«
Endlich brach Walther sein Schweigen. »Habt Dank für die gute Bewirtung und Eure warmen Worte, ich würde es allerdings vorziehen, nicht länger zu plaudern und den Jungen stattdessen gleich zu sehen.«
Runa wurde es heiß und kalt. Viel unfreundlicher hätte Walther kaum sein können.
Doch Johann Schinkel ließ sich nicht beirren. »Nun gut, wenn es Euer Wunsch ist, lasse ich Thymmo sofort holen. Doch gestattet mir, noch eines vorweg zu sagen. Der Junge verzehrt sich nach Euch, und zwar nach Euch beiden!« Dann wurde sein geduldiger Ton strenger. »Ich wünsche, dass dem Kind kein unnötiger Kummer bereitet wird! Seid also so gut, und benehmt Euch wie ein liebender Vater, für den Thymmo Euch auch hält.«
Walther nickte und versicherte: »Ich verstehe.«
Runa frohlockte nach diesen Worten, die ihr aus der Seele sprachen. Trotz aller früherer Rivalitäten der Männer durfte nicht vergessen werden, dass es hier um Thymmo ging.
Dann gab Johann das Zeichen. Nur wenig später wurde sein und Runas Sohn hereingeführt.
Das Kind brauchte nicht lang, um zu begreifen. »Mutter, Vater!«, stieß es hervor und rannte beiden in die Arme.
»Thymmo, mein Schatz, mein Liebling …«, entfuhr es Runa, die schon auf die Knie gegangen war, um ihrem Sohn in die Augen sehen zu können. »Wie ist es dir in der Domschule ergangen? Bist du fleißig? Wie gut ist dein Latein?«
Der Junge senkte schuldbewusst den Kopf, doch bevor er wahrheitsgemäß antworten konnte, nahm ihm Johann Schinkel das Wort aus dem Mund.
»Er ist außerordentlich fleißig. Der Scholastikus findet keinen Tadel an ihm, und sein Latein wird jeden Tag besser.«
Thymmo blickte den Domherrn erstaunt an, dann wurde er von seiner Mutter an ihre Brust gedrückt.
»Das ist ja wunderbar! Ich bin sehr stolz auf dich.«
Bei dem herzrührigen Anblick von Mutter und Sohn wurde selbst Walthers Blick weich.
Der Junge schaute zu seinem vermeintlichen Vater auf und umfasste mit seiner kleinen Hand die Flöte, welche an einem Lederband um seinen Hals hing. »Ich habe sie noch, Vater. Und ich trage sie jeden Tag!«
»Das freut mich, Thymmo!«, sagte Walther zu dem Jungen und strich ihm über den blonden Kopf. »Verliere sie nicht, denn sie soll dir immer Glück bescheren.«
»Glück kommt von Gott, nicht von einer Flöte«, berichtigte Johann Schinkel Walther, der ihn sogleich mit einem bösen Blick bedachte.
Trotzdem verstand Walther den Einwand – schließlich war der Domherr ein Mann der Kirche und konnte auch nur annähernd ketzerische Reden nicht zulassen.
»Ich würde gerne mit meinem Sohn kurz allein sein, wenn es euch beiden recht ist«, wünschte sich Runa und nahm Thymmo an der Hand. Sie wusste, was sie da verlangte. Schließlich war die Stimmung zwischen den Männern angespannt. Doch das war ihr in diesem Moment gleich. »Wir sind im Garten«, sprach sie und rauschte an ihrem Gemahl und ihrem einstigen Geliebten vorbei.
Die Männer sahen ihr nach. Dann schritt Johann Schinkel zum geöffneten Fenster, das den Blick auf den laubbedeckten Garten freigab, in dem bald schon der Schnee vorherrschen würde. Hier blieb er eine Weile stehen und genoss den Anblick von Mutter und Sohn, wie sie mit den letzten bunten Blättern spielten, die der Novemberregen noch nicht hinfortgespült hatte.
Walther kam hinzu und schaute ebenfalls hinunter. »Ergeht es ihm gut bei Euch?«
»Nun, ich tue mein Bestes, um ihm ein schönes Heim zu geben. Aber er vermisst seine Geschwister, seine Mutter und auch Euch.«
Walther fühlte sich abermals schuldig, da das Kind litt, weil er es nicht um sich haben konnte. Doch die Lösung, die Runa und er gefunden hatten, schien auch heute noch die Allerbeste. »Ich danke Euch dafür, dass Ihr dem Jungen ein Vater seid, Schinkel. Wenn es nach mir ginge, würde ich Euch nur zu gern gestatten, Thymmo eines Tages
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