Das Vermächtnis von Thrandor - Der Auserwählte
wurde Femke mehrmals aufgehalten und gefragt, was sie in der Stadt wolle. Das Heer hatte Shandrim offenbar fest im Griff.
Femke erzählte jedes Mal dieselbe Geschichte. Ihre kranke Tante wohne in Shandrim und habe sie gebeten, ihr zur Hand zu gehen, bis sie wieder auf den Beinen sei. Femke gab vor, sich nicht auszukennen, und fragte jedes Mal, wenn sie angehalten wurde, nach dem Weg. Noch wusste sie nicht so recht, wie sie vorgehen sollte: Sollte sie sich als Erstes einen Unterschlupf suchen, um von dort aus die nächsten Schritte zu planen? Oder besorgte sie sich besser zunächst eine geeignete Verkleidung?
Femke hatte in mehreren Stadtteilen Verstecke mit Kleidung und Ausrüstung angelegt, doch nur in einem befand sich auch militärische. Da ihr angesichts der vielen Soldaten und Stadtwächter auf den Straßen jede andere Tarnung
nutzlos erschien, machte sie sich auf den Weg zu dem entsprechenden Haus. Das war nicht ganz ungefährlich, denn der Kaiser ahnte womöglich, dass sie ihren Auftrag nicht ausführen würde, und ließ bekannte Anlaufpunkte beobachten. Femke schlug das Herz bis zum Hals, als sie vor dem Haus ankam und ihr Pferd anband. Doch sie widerstand der Versuchung, die Umgebung nach möglichen Beobachtern abzusuchen. Stattdessen ging sie betont gelassen zur Tür und klopfte.
Zunächst war nichts zu hören, und Femke fürchtete schon, dass das Haus durchsucht und ihre Kontaktperson verhaftet worden war. Doch dann erklangen Schritte. Die Tür öffnete sich knarrend und ein vertrautes Gesicht spähte durch den Türspalt.
»Ach, du bist es«, sagte die Frau leise und zog die Tür ganz auf. »Komm nur.«
Femke trat ein. Die Frau schloss die Tür hinter ihr und sah sie forschend an.
»Du solltest mehr essen, junge Dame. Du bist dünn wie eine Bohnenstange. Komm mit in die Küche, ich habe heißen Dahl auf dem Ofen, wenn du magst. Er ist ganz frisch.«
»Das wäre wunderbar, Lisa«, erwiderte Femke dankbar, denn sie war ziemlich durchgefroren. »Ich kann allerdings nicht lange bleiben. Ich muss nur ein paar Sachen aus dem Schrank holen, dann bin ich schon wieder weg. Ich habe noch einiges zu erledigen, bevor es dunkel wird.«
Lisa lächelte Femke freundlich an. Sie hatte ein gebräuntes Gesicht mit Lachfalten um die Augen, das auf alle, die jünger waren als sie, eine mütterlich-fürsorgliche Wirkung hatte. Lisa bemutterte andere gern, und ihre Freundlichkeit kam von Herzen, das spürte man.
»Ihr jungen Leute, immer seid ihr in Eile, habt nie Zeit, euch mal in Ruhe hinzusetzen. Wirklich, ich frage mich,
was dich umtreibt. Aber du weißt am besten, was du zu tun hast, junge Dame. Komm jetzt, wärm dich ein bisschen auf. Dann bringe ich dich nach oben.«
Femke lächelte dankbar und gleichzeitig belustigt. Jedes Mal, wenn sie herkam, bestand Lisa darauf, sie in das Gästezimmer im ersten Stock zu geleiten, in dem der Schrank mit ihren Kleidern stand. Als sie einmal darauf hingewiesen hatte, dass sie den Weg kannte, hatte Lisa sie mit einem äußerst vorwurfsvollen Blick bedacht, als hätte sie etwas Unanständiges gesagt.
Der Dahl war so heiß, dass Femke eine Weile pusten musste, ehe sie den ersten Schluck nehmen konnte. Lisa hatte einen großzügigen Löffel Honig hineingegeben, ohne Femke zu fragen. Sie wollte sie offensichtlich ein wenig mästen. Obwohl Femke das Getränk eigentlich zu süß war, erfüllte es sie nach der Anstrengung des einwöchigen Rittes doch mit einer wohltuenden Wärme und Energie.
Lisa wuselte derweil durch die Küche und schien Ordnung machen zu wollen. Da so viele Kochtöpfe und Gerätschaften herumstanden, sah es eher danach aus, als räume sie die Sachen von einer Ecke in die andere. Schöpfkellen, Löffel und Bratenwender hingen an den Wänden und an großen Metallhaken waren Zwiebelbünde befestigt. In den Regalen stapelten sich Töpfe, Pfannen und Backbleche in allen Größen, und im Gewürzregal standen Kräuter, Gewürze und Soßen, mit denen man eine ganze Kompanie hätte versorgen können. Femke wusste, dass Lisa keine Familie hatte und seit vielen Jahren allein hier lebte. Doch da sie leidenschaftlich gern kochte und buk, bekam die Nachbarschaft von den Früchten der vielen Stunden Arbeit, die sie in der Küche verbrachte, ihren Teil ab.
Femke sah der kleinen, untersetzten Frau bei der Arbeit zu, während sie an ihrem Dahl nippte. Als Lisa ihr ein Stück
Obstkuchen aufdrängte, sagte sie nicht Nein, sondern verzehrte es geduldig. Doch die Zeit lief ihr davon,
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